zurĂŒck zum Artikel

Frauen und Telegram: Wie die Revolution in Belarus lÀuft

Frauen und Telegram: Wie die Revolution in Belarus lÀuft

(Bild: LoboStudioHamburg)

Die Proteste gegen die PrÀsidentenwahl in Belarus haben sich zu einer Revolution ausgeweitet. Der Messenger Telegram und Frauen spielen eine wichtige Rolle.

Zu Fuß und unter dem LĂ€rm von Autohupen wie bei einem gewonnenen Fußballspiel ziehen die Menschen ins Zentrum von Minsk zum bisher grĂ¶ĂŸten Protest gegen Alexander Lukaschenko. Sie tragen die historischen rot-weißen Fahnen von Belarus – ein Ausdruck nationalen Selbstbewusstseins. "Lukaschenko ist am Ende, die Frage ist nur, wie lange er noch kĂ€mpft", sagt die BĂŒrokauffrau Nadeschda am Sonntag auf der Straße. Auf 200.000 Demonstranten schĂ€tzen soziale Netzwerke anhand von Drohnenaufnahmen die Protestmenge.

Kurz zuvor noch lĂ€sst der Machthaber Lukaschenko aus allen Teilen des Landes UnterstĂŒtzer in Bussen herankarren. Einige Staatsbedienstete berichteten, sie seien gezwungen worden, an ihrem arbeitsfreien Sonntag Lukaschenko die Treue zu schwören. Der 65-JĂ€hrige bedankt sich zwar innig in einer Rede auf dem UnabhĂ€ngigkeitsplatz. Doch das Herz der Revolution in Belarus (Weißrussland) schlĂ€gt ein paar Hundert Meter weiter, wo sich seine Gegner versammeln. Sie kommen ohne eine zentrale Organisation aus. Die schiere Wut ĂŒber Lukaschenko, dem sie eine gefĂ€lschte PrĂ€sidentenwahl vorwerfen, treibt sie auf die Straßen. Von allein.

Vor allem den Messenger Telegram [1] nutzen Aktivisten fĂŒr eine blitzschnelle Verbreitung von Protestaufrufen, Nachrichten und Warnungen vor Gefahren und Hilfsangeboten fĂŒr die Opfer. Dort sind auch bestĂŒrzende Videoclips von der Polizeigewalt gegen Demonstranten zu sehen. Telegram-GrĂŒnder Pawel Durow hat bei Twitter mitgeteilt, dass er die Proteste unterstĂŒtze. WĂ€hrend viele Internetseiten immer wieder blockiert sind, funktioniert oft nur noch das von Durow gegrĂŒndete Netzwerk – vor allem ohne Zensur.

In den Massenprotesten stechen immer wieder besonders Frauen heraus. Sie haben nach dem Ende der Polizeigewalt den Anfang gemacht mit friedlichen Protesten – barfuß in weißen Kleidern und mit Blumen in der Hand. Sie umarmen, wo möglich, die Uniformierten in ihrer Kampfmontur. "Es gibt nicht die eine Frau, die das organisiert", sagt Marina Mentissowa in einem ihrer vielen Interviews in Minsk. Vielmehr hĂ€tten sich Tausende Frauen durch "kollektive Vernunft" im ganzen Land zusammengeschlossen, um friedlich, aber auch mit Humor und freundlichem LĂ€cheln fĂŒr den Wandel einzutreten.

Die MĂ€dchen und Frauen hĂ€tten Angst vor den PrĂŒgelattacken der Staatsmacht, sagt die Mutter. "Aber sie haben noch mehr Angst, in einem Staat zu leben, in dem kĂŒnftig nur noch zugeschlagen wird." Mentissowa, die ihre Familie in Moskau zurĂŒckgelassen hat, um in ihrer Heimat zu demonstrieren, sagt, dass sich die Frauen vor allem von Swetlana Tichanowskajas Mut inspiriert sehen. Die 37-jĂ€hrige PrĂ€sidentschaftskandidatin sieht sich als Siegerin der Wahl.

Die Hausfrau ist in das EU-Land Litauen geflĂŒchtet. Dorthin hat die zweifache Mutter auch ihre Kinder in Sicherheit bringen lassen. Sie ist die Symbolfigur des Aufstands gegen Lukaschenko. Tichanowskaja war fĂŒr ihren Mann, den regierungskritischen Blogger Sergej Tichanowski, bei der Wahl angetreten [2]. Dass sie als Kandidatin zugelassen wurde, war wohl vor allem der von Lukaschenko immer wieder verbreiteten Ansicht geschuldet, dass Frauen politisch nicht ernst genommen werden könnten. Sie wurde ausgelacht von Lukaschenko – und als armes Opfer bezeichnet. "Sie hat die Kraft des Wassertropfens, der den Stein höhlt", sagt Mentissowa.

Ihren Wahlkampf hatte Tichanowskaja mit der Frau des nach Russland geflĂŒchteten IT-Unternehmers Waleri Zepkalo und mit Maria Kolesnikowa, der Kampagnenchefin des aussichtsreichen PrĂ€sidentschaftsbewerbers Viktor Babariko, gefĂŒhrt. Babariko sitzt ebenfalls in Haft – doch das Frauen-Trio hatte geschafft, Zehntausende Menschen im ganzen Land zu mobilisieren.

"Lukaschenko hat Frauen immer nur als Begleiterinnen gesehen und ihnen kaum Raum in der öffentlichen Politik gegeben", sagt die belarussische Analystin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur. "Die Wahlkampagne der drei Frauen hat gezeigt, dass sie in der Gesellschaft doch anders wahrgenommen werden: als intelligente und gleichberechtigte MitbĂŒrgerinnen, die fĂŒhren, motivieren und begeistern können." Tichanowskaja verkörpere als sanfte, offene und ehrliche Frau das Gegenteil von Lukaschenko. "Er hielt sie fĂŒr nicht gefĂ€hrlich – und hat sich verschĂ€tzt."

Doch nach den Tagen mit den Frauen fast allein an der Front haben sich die Proteste nun zu einer Revolution ausgeweitet. Ärzte gehen zu Protesten gegen Gewalt auf die Straße. Ein Schuldirektor verurteilt in einem Clip die FĂ€lschungen in den Wahlprotokollen am Sonntag vor einer Woche. SicherheitskrĂ€fte, einzelne bisher, quittieren den Dienst. Aber auch Prominente wie die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa und die LiteraturnobelpreistrĂ€gerin Swetlana Alexijewitsch solidarisieren sich mit den Protesten.

Vor allem aber die Arbeiter in den Staatsbetrieben werden Lukaschenko gefĂ€hrlich. Viele sind im Streik. Die Arbeitsniederlegung trifft den Machtapparat, der wie zu Sowjetzeiten auf Staatswirtschaft setzt, schwer. Zwar schickt Lukaschenko Regierungsvertreter und Mitarbeiter der PrĂ€sidialverwaltung in die Staatsbetriebe, um mit den Menschen zu sprechen. Aber die Wut der BeschĂ€ftigten ist groß: "Lukaschenko, uchodi!" – zu Deutsch: Hau ab! –, rufen sie.

FĂŒr diesen Montag hat auch das Staatsfernsehen mit einem Ausstand gedroht. Die Senderleitung bestelle Berichte zu den Erfolgen der Getreideernte, wĂ€hrend auf den Straßen draußen der Aufstand tobe, klagt der Beleuchter Wladimir Iljitsch Titajanko vor Journalisten. Er spreche nur fĂŒr das technische Personal, gehe aber davon aus, dass da 90 Prozent mitmachen wĂŒrden. Es gebe keine Antworten auf wichtige Fragen, sagt Wladimir: Wer ĂŒbernimmt die Verantwortung fĂŒr die Toten und Verletzten bei den Protesten?

An Einlenken denkt Lukaschenko bisher nicht. Er sieht sein Land umzingelt von Feinden – etwa im Nachbarland Polen –, die ihn stĂŒrzten wollten. Vermittlungsangebote lehnt er ebenso ab wie Angebote seiner Gegner, in Dialog zu treten. Bei mehreren Auftritten am Wochenende macht er wieder klar: Er gebe das Land nicht her. Um keinen Preis.

(tiw [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4871835

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Telegram-fuehrt-Videoanrufe-ein-4871773.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Weissrussland-vor-der-Wahl-4864344.html
[3] mailto:tiw@heise.de