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Körper einer Leipzigerin für Medizin-Simulation zerschnitten

Daniel AJ Sokolov
Schnitt durch einen Körper

(Bild: The Visible Human Project (gemeinfrei))

Für Bildung und Forschung wurde eine Leiche in 27.000 Teile geteilt und fotografiert. Nun entsteht eine virtuelle Version der Seniorin – samt Sprachdialogen.

Am Weihnachtstag 1927 kam Susan Potter als Susan Christina Witschel in Leipzig zur Welt. Nach dem zweiten Weltkrieg wanderte sie in die USA aus, wo sie 1956 Herrn Harry Potter heiratete. Im Jahr 2000 vermachte Susan Potter ihre leiblichen Überreste der Wissenschaft, und das zu einem ganz bestimmten Zweck: Sie wollte ihrem Körper ein zweites Leben als virtuelle Simulation schenken und so die Ausbildung von Ärzten unterstützen. Dafür sollte der Körper praktisch zermahlen werden.

Potter suchte den Physiker und Imaging-Experten Dr. Victor Spitzer, Professor an der medizinischen Fakultät der Universität Colorados, auf. Spitzer war aber nicht sofort begeistert, wie die Zeitschrift National Geographic berichtet [1]. Der Wissenschaftler konnte sich aber schließlich für Potters Wunsch erwärmen. Dabei war ihm wichtig, auch die lebende Frau zu dokumentieren: Nicht nur ihre Krankengeschichte, sondern auch ihre Sichtweise des Projekts. Unter anderem filmte er Interviews mit der Spenderin.

Potter hatte erwartet, binnen Jahresfrist zu sterben. Doch sie sollte noch etwa 15 Jahre leben, bis sie im Februar 2015 in Denver 87-jährig an einer Lungenentzündung verstarb. Ihr Körper wurde mit Polyvinylalkohol überzogen und auf -26 Grad eingefroren. Der Kunststoff schützte den Körper vor Frostschäden und erlaubt in den inzwischen angefertigten Aufnahmen guten Kontrast zwischen Körpergewebe und ihn umgebenden Materialien.

Spitzer suchte vergeblich nach Forschungsgeldern für das Projekt. Schließlich investierte er Mittel der von ihm mitgegründeten Firma Touch of Life Technologies. Das Unternehmen bietet bereits verschiedene Medizin-Simulatoren an.

2017 zersägte er Potters Körper manuell in vier Teile, weil der gesamte Körper nicht in die Schneidemaschine gepasst hätte. Eine Hüftprothese aus Metall wurde entfernt; sie hätte die Maschine beschädigen können. Schrauben in den Wirbeln durften bleiben.

Anschließend wurden die vier Teile des 155 Zentimeter großen Frauenkörpers in 63-Mikrometer-Schritten zermahlen. Nach jeder abgetragenen Schicht wurden Fotos gemacht. Dieses Verfahren, bei dem etwa 27.000 Schnitte gemacht wurden, hat zwei Monate in Anspruch genommen.

Seither werden die Aufnahmen verarbeitet. Jede einzelne Gewebeart wie Nerven, Muskeln, Sehnen, Blutgefäße, Organe und so weiter muss ebenso auf jedem Bild markiert werden wie andere Materialien, etwa die nach einem Autounfall eingesetzten Schrauben. Zudem müssen die Fotos sehr exakt aneinandergereiht werden.

In zwei bis drei Jahren soll die aufwendige Simulation fertig sein. Dann werden Studierende und Forscher jeden Winkel des Körpers erkunden können. Dabei werden sich einzelne Gewebearten ein- und ausblenden lassen.

Eines Tages soll "Frau Potter" sogar mit ihrer eigenen Stimme mit den Studierenden sprechen: "Ich erwarte, dass sie zu Ihnen sprechen wird wie Siri", sagte Spitzer zu National Geographic. Das zu programmieren werde aber noch geraume Zeit in Anspruch nehmen und nicht unter seiner Ägide erfolgen.

Das Projekt ist eine "hochaufgelöste" Fortsetzung des "Visible Human [2]"-Projekts der USA aus den 1990-er-Jahren, das seither bereits in China und Korea nachgeahmt wurde. Bei Visible Human wurden allerdings die Leichname zweier weitgehend "gesunder Toter" genutzt. Sie durften keine chirurgischen Eingriffe oder schwere Traumata erfahren haben.

Diese Spenderkörper eines Mannes und einer Frau waren Mitte der 1990-er-Jahre in vergleichsweise dicke Scheiben von einem Millimeter respektive 300 Mikrometern zerschnitten und digitalisiert worden. Bei Frau Potter waren die "Schnitte" mit 63 Mikrometern so dünn, dass praktisch nur gefrorener Staub übrig blieb. Er wurde kremiert.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist, dass Potter Prothesen und diverse Schrauben in sich sowie chirurgische Eingriffe hinter sich hatte. Wegen Brustkrebses waren der Frau beide Brüste amputiert worden. Beim ersten Visible-Human-Projekt wäre die Seniorin also keine willkommene Kandidatin gewesen. Spitzer gelangte indes zu der Ansicht, dass die virtuelle Darstellung einer mehrfach Kranken und Verletzten Sinn habe. Schließlich befassen sich Ärzte vorwiegend mit Kranken.

Am Weihnachtstag wäre Susan Potter 91 Jahre alt geworden. (ds [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4259131

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nationalgeographic.com/magazine/2019/01/visible-human-susan-potter-cadaver/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Visible_Human_Project
[3] mailto:ds@heise.de