Gericht verurteilt "Vater des russischen Internets" zu Haftstrafe

Ein Moskauer Gericht hat Alexei Soldatov zu zwei Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf gegen den 72-jährigen todkranken Internet-Pionier lautet "Amtsmissbrauch".

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Computergrafik, die einen Mann auf dem Gang vor Gefängniszellen zeigt, darüber ein stilisiertes Netzwerk mit Lichtpunkten

"Das Regime bestraft diejenigen, die das moderne Russland aufgebaut haben, für etwas, das als Gedankenverbrechen gilt" – so kommentiert Andrei Soldatov die Verurteilung seines Vaters, der in der früheren Sowjetunion den Weg fürs Internet bereitet hat.

(Bild: KI, Montage: c’t)

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Inhaltsverzeichnis

Der Kernphysiker und Internetexperte Alexei Soldatov, der unter anderem Mitgründer des ersten russischen Netzproviders Relcom war, soll zwei Jahre in einem Arbeitslager zubringen. Das hat ein Gericht im Moskauer Bezirk Saviolovski am Montag, dem 22. Juli, entschieden. Der Vorwurf lautete auf Amtsmissbrauch im Zusammenhang mit der Verwaltung eines IP-Adresspools durch die Non-Profit-Organisation Russian Institute for Public Networks (RIPN). Das berichten unter anderem die Presseagentur AP sowie das Bürgerrechtsportal netzpolitik.org. Mit Alexei Soldatov gemeinsam wurde auch sein ehemaliger Geschäftspartner Yevgeny Antipov wegen der gleichen Vorwürfe verurteilt, und zwar zu 18 Monaten Haft. Alexei Shkittin, ein weiterer Ex-Geschäftspartner Soldatovs und international tätiger Netzexperte, war ebenfalls angeklagt. Was aus ihm geworden ist, sei unbekannt, so netzpolitik.org. Shkittins Profile auf den Plattformen LinkedIn und Xing legten nahe, dass er sich in Berlin aufgehalten habe.

Die Anklage warf Soldatov, Antipov und Shkittin vor, bei RIPN rund acht Millionen US-Dollar durch die illegale Weitergabe von Adressblöcken an das in Tschechien ansässige Internet-Unternehmen Reliable Communications veruntreut zu haben, das Soldatov und Shkittin gehört haben soll. Über die bereits 2019 begonnenen Kriminalermittlungen berichtete zu Silvester jenes Jahres das Recherchenetzwerk Meduza und legte dabei nahe, dass die tatsächlichen Hintergründe anders aussahen als von den offiziellen Stellen dargestellt. Wie es bei Meduza unter Berufung auf ein seinerzeitiges RIPN-Vorstandsmitglied heißt, soll die Organisation vielmehr 2019 kurz vor der Auflösung gestanden haben.

Die russische Regierung habe angesichts dessen befürchtet, dass die Verwaltung der Top-Level-Domain ".su", die für die einstige Sowjetunion stand, von RIPN an die von Soldatov kontrollierte gemeinnützige „Internet Development Foundation“ übergehen könnte. Der Bericht weist darauf hin, dass zu jener Zeit ein Gesetz für ein "souveränes" russisches Internet in Kraft trat. Die Regierung wollte in diesem Zuge unter anderem Top-Level-Domains wie .ru, .рф und eben auch .su unter die eigene staatliche Kontrolle bekommen.

Eigentlich hätte .ru das alte .su bereits vor der Jahrtausendwende ersetzen sollen. Dazu kam es jedoch nicht, weil die alte Top-Level-Domain nach wie vor zu beliebt gewesen sei. Auch heute noch wird sie weiterhin von RIPN beziehungsweise dem Russian Institute for Development of Public Networks (ROSNIIROS) verwaltet. Andrei Soldatov zufolge hat sein Vater bei RIPN überhaupt keine Position innegehabt. Er spricht von einer "rechtlichen Absurdität". Im Meduza-Bericht hieß es seinerzeit, das Handeln Soldatovs sei zwar schwer durchschaubar, aber keineswegs illegal gewesen.

Alexei Soldatov wies jedenfalls alle gegen ihn gerichteten Anschuldigungen zurück. Seine Familie spricht von einem rein politischen Urteil. Für den 72-jährigen schwer kranken Mann komme die Entscheidung einem Todesurteil gleich, denn das Gericht habe von der tödlichen Krankheit des russischen Internet-Pioniers gewusst – das schreiben Soldatovs Sohn Andrei sowie dessen Frau Irina Borogan in einem Beitrag auf der Website des in Washington D. C. ansässigen Center for European Policy Analysis (CEPA). CEPA ist eine Non-Profit-Denkfabrik, die Recherchen, Analysen und Aufklärung zugunsten politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa betreibt.

Als gelernter Kernforscher hat Alexei Soldatov zu Sowjetzeiten im renommierten Moskauer Kurtschatow-Institut Karriere gemacht. In der Zeit des Kalten Krieges galt das Institut als eine führende Atomforschungseinrichtung in der Sowjetunion. Wissenschaftler dort arbeiteten nicht nur an Kernwaffen, sondern hatten auch mit vielen anderen Projekten von nationaler militärischer Bedeutung zu tun. Das Spektrum reichte von Atom-U-Booten bis zu Laserwaffen.

Alexei Soldatov gilt als Vater des russischen Internets. 2009 nahm er am ICANN-Meeting in der sĂĽdkoreanischen Hauptstadt Seoul teil.

(Bild: Veni Markovski, CC-BY 2.0)

Im Gegenzug genoss das Kurtschatow-Institut ein Maß an Freiheit, von dem andere sowjetische Forschungseinrichtungen nur hätten träumen können. Unter anderem gab es eine Fernsprechverbindung für Auslandsgespräche. Soldatov war unter seinen Kollegen dafür bekannt, dass er stärker als jeder andere für seine Arbeit Computer nutzte. Nachdem er seinen Traum verwirklicht hatte, ein eigenes Netzwerk am Institut aufzubauen, versammelte er ein Programmiererteam um sich und machte sich 1990 daran, das Kurtschatow-Netz mit anderen Forschungeinrichtungen im Lande zu verbinden. Den schneidig klingenden Namen für das neue Netz hatte ein englischsprachiges Wortfindungsprogramm ausgespuckt: Relcom.

Noch im August 1990 schuf Relcom eine Verbindung zwischen dem Moskauer Kurtschatow-Institut und dem rund 740 km entfernten Institut für Informatik und Automation in Leningrad. Weitere Forschungszentren, die angebunden wurden, lagen in Dubna, Serpuchov und Novosibirsk. Das Relcom-Datennetz nutzte gewöhnliche Telefonleitungen. Die Bandbreiten waren verglichen mit Netzwerken der westlichen Welt winzig. Zunächst war es lediglich möglich, einfache E-Mails auszutauschen. Aber das Relcom-Team sah bereits weiter und wollte einen Anschluss ans weltweite Datennetz schaffen. Der erste Schritt dazu gelang schon am 28 August: Kurtschatow-Programmierer tauschten E-Mails mit Kollegen an einer Universität im finnischen Helsinki aus. Damit war die isolierte Sowjetunion durch Relcom mit dem weltweiten Internet verbunden. Der vom Institutsprojekt zum Tech-Unternehmen mutierte Provider Relcom wuchs schnell; für viele war der Name bald gleichbedeutend mit E-Mail-Kommunikation und dem Internet als solchem.

Im Grunde, so Andrei Soldatov, sei es aber eine ausgesprochen antisowjetische Idee gewesen, Leute im Sowjetreich nicht nur miteinander, sondern mit der ganzen Welt zu verbinden. In der Sowjetunion regierten hierarchisches Denken und das Prinzip von Verbot und Zulassung. So ließ denn auch die erste politische Herausforderung für Relcom nicht lange auf sich warten: Im August 1991 organisierte der Geheimdienst KGB einen Putsch von KPdSU-Funktionären gegen Präsident Michail Gorbatschow und blockierte in diesem Zuge konventionelle Medien. Allerdings hatten die Putschisten das aufstrebende Internet nicht auf dem Schirm. Soldatov war zu jenem Zeitpunkt in Wladikawkas, über 1700 km südlich von Moskau. Aber als er seine Mitarbeiter im Kurtschatow-Rechenzentrum erreichte, bestand er darauf, das Datennetz auf alle Fälle offen zu halten.

So blieben die Relcom-Verbindungen intakt und die Nachrichten über Widerstand gegen den Putsch konnten sich nicht nur in Moskau, sondern auch in Europa und in den USA verbreiten. Dieser Informationsfluss war enorm effektiv, denn das Netzwerk war vollständig horizontal, nicht hierarchisch aufgebaut. Bereits am ersten Tag der Ereignisse hatte jemand im Relcom-Team eine Idee, die unter dem Namen "Regime N1" bekannt wurde: Alle Nutzer von Relcom-Accounts sollten aus dem Fenster schauen und genau berichten, was sie an ihren jeweiligen Standorten sahen: Gefragt waren ausschließlich Fakten. So gewann Relcom ein mosaikartiges Bild der Ereignisse im ganzen Land und konnte die Augenzeugenberichte der Nutzer sowie aktuelle Nachrichtenzusammenfassungen verbreiten. Es wurde klar, dass Panzer und Truppen sich ausschließlich in Moskau und Leningrad gezeigt hatten. Damit wusste die Welt auch, dass der Putsch weder Substanz noch Bestand haben konnte. Für das junge russische Internet war das ein Schlüsselmoment, wie Andrei Soldatov betont.

Was folgte, waren 1991 der Zusammenbruch des Sowjetreichs und in den darauffolgenden Jahren der Boom des weltweiten Internets. Auch in Russland blühte die Netzkommunikation. Aus Soldatovs Relcom wurde einer von vielen Internet-Service-Providern mittlerer Größe. Er selbst genoss verbreiteten Respekt für seine Sachkenntnis in Bezug auf die Netzorganisation, sowohl in Russland als auch außerhalb, Er trug dazu bei, die Einrichtungen zu schaffen, die seitdem das technische Rückgrat des russischen Internets bilden — einschließlich der Vergabe von Domainnamen und IP-Adressen.

Im Mai 2008 endete Wladimir Putins zweite Amtszeit als russischer Präsident; er wechselte ins Amt des Ministerpräsidenten. Dmitri Anatoljewitsch Medwedew, der ihn als Präsident ablöste, gab sich anfänglich liberal und präsentierte sich als begeisterter Freund des internationalen Datennetzes. Er lud Soldatov ein, als Vize-Kommunikationsminister in sein Kabinett zu kommen und dort fürs Internet zuständig zu sein. Ministerpräsident Putin sprach die Ernennung aus. Allerdings hielt Soldatov es in diesem Amt nur zwei Jahre aus. Im November 2010 trat er zurück, da er Regierungspläne nicht unterstützen wollte, die zu dieser Zeit im Gespräch waren: Das betraf die Entwicklung eines nationalen Betriebssystems für Computer ebenso wie die Schaffung einer speziellen nationalen Suchmaschine, die das russische Internet vom weltweiten Netz abtrennen sollte. Wie Andrei Soldatov betont, habe sein Vater immer an das horizontale Konzept eines globalen Internets geglaubt.

Unter dem zunehmend autoritären Regime der dritten und vierten Amtszeit Präsident Putins machte Alexei Soldatov sich damit offenbar immer stärker unbeliebt. Hinzu kam, dass sein Sohn als investigativer Journalist zusammen mit Irina Borogan schon seit 2008 wiederholt regimekritische Beiträge international veröffentlichte. Unter anderem betraf dies Kommentare zu Fragen des Terrorismus und der Nachrichtendienste für die zunächst von Financial Times und Wall Street Journal betriebene Tageszeitung Wedomosti sowie für Radio Free Europe und die BBC. Ihr 2000 mit mehreren Kollegen gegründetes Recherchenetzwerk Agentura.ru folgt eigenen Angaben zufolge dem Vorbild von Steven Aftergoods Projekt "Secrecy News" bei der Federation of American Scientists (FAS), bei dem es darum ging, zuvor verschlossene Regierungsdokumente von öffentlichem Interesse zu publizieren und Informationen über Geheimdienstmethoden offenzulegen.

Ob ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Beobachtung Alexei Soldatovs und den Aktivitäten seines Sohnes besteht, ist nicht klar – jedenfalls war der Internet-Pionier seit 2019 Gegenstand von Kriminalermittlungen. Er arbeitete aber dennoch weiter an Forschungsprojekten, unter anderem zum Thema künstliche Intelligenz. Die genannten Ermittlungen hat Andrei Soldatov zufolge Andrei Lipov in Gang gesetzt, seinerzeit Kopf der Internet-Abteilung in der Putin-Administration. Seit 2020 leitet Lipov Rozkomnadzor, den Aufsichtsdienst über Informationstechnik und Massenkommunikation. Lipov unterliegt etlichen internationalen Sanktionen infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Andrei Soldatov bezeichnet Rozkomnadzor als russische Agentur für Internetzensur und merkt an, dass Lipov es auf seinem Weg nach oben nunmehr endlich geschafft habe, den unbequemen Internetexperten hinter Gitter zu bringen. Er selbst, so Andrei Soldatov, habe seinen Vater nicht mehr gesehen, seit Irina Borogan und er vor vier Jahren ins Exil ins Vereinigte Königreich gezogen sind. Er hoffe, setzt er hinzu, dass er noch einmal Gelegenheit bekomme, ihn wiederzusehen. Worin das Regime wohl das eigentliche Verbrechen seines Vaters gesehen habe, fragte er sich: Sei es dessen unabhängiger Geist, seine echte Integrität – oder der Sohn, der im Exil lebe, während er über den Abstieg seines Heimatlands zu einer Diktatur schreibe? (psz)