Hirnforschung: Neue Studie sagt mit KI Aktivitäten einzelner Neuronen voraus

Forscher sagen mithilfe von KI und einem Konnektom Aktivitäten einzelner Neuronen vorher, ohne eine einzige Messung in einem lebenden Gehirn durchzuführen.​

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Modell des visuellen Systems von Fruchtfliegen und seiner neuronalen Verschaltung

Das Modell des visuellen Systems von Fruchtfliegen und seiner neuronalen Verschaltung

(Bild: Lappalainen, J.K., Tschopp, F.D., Prakhya, S. et al. (Open Access))

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Michael Link
Inhaltsverzeichnis

Seit Jahrzehnten verbringen Neurowissenschaftler unzählige Stunden im Labor und messen mühsam die Aktivität von Neuronen in lebenden Tieren, um herauszufinden, wie das Gehirn ein bestimmtes Verhalten ermöglicht. Diese Experimente haben bahnbrechende Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns geliefert, aber sie haben nur an der Oberfläche gekratzt und viele Teile des Gehirns unerforscht gelassen. Das soll sich jetzt ändern. Mal wieder dank KI.

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In einer neuen Studie, die unter Open Access frei herunterzuladen ist, nutzten Forscher künstliche Intelligenz und ein sogenanntes Konnektom. Es bildet die Gesamtheit aller Neuronen in einem Lebewesen und ihrer Verbindungen ab. Das Modell sagt die Rolle von Neuronen in einem lebenden Gehirn voraus. Die Forscher benutzten als Basis die Augen einer Fruchtfliege und die korrespondierenden Verschaltungen. Anhand von Informationen über die Verbindungen ihrer neuronalen Verschaltung aus dem Konnektom der Fruchtfliege sowie einer Vermutung darüber, was der Schaltkreis tun soll, haben Forscher eine KI-Simulation erstellt. Es sagt voraus, welches Neuron für welche Aktivität im Schaltkreis steht.

Janelia-Forschungsgruppenleiter Srini Turaga sagt: "Wir haben jetzt eine rechnerische Methode, um Messungen des Konnektoms in Vorhersagen der neuronalen Aktivität und Gehirnfunktion zu verwandeln, ohne dass wir zuerst durch schwer zu erlangende Messungen der neuronalen Aktivität für jedes Neuron herausfinden müssen, was es tut."

Das Modell des Teams von Wissenschaftlern des Janelia Research Campus des Howard Hughes Medical Institute (HHMI) und der Universität Tübingen ist sehr detailliert: Es benutzte das Konnektom, um damit eine detaillierte Netzwerksimulation des visuellen Systems der Fliege zu erstellen. Jedes Neuron und jede Synapse im Modell entsprechen dabei jeweils einem realen Neuron und einer realen Synapse im Gehirn.

Obwohl das Verhalten und die Zuständigkeiten der einzelnen Neuronen und Synapsen nicht bekannt waren, konnten die Forscher mit den Daten des Konnektoms und Methoden des Deep Learning bislang unbekannte Parameter ableiten. Sie kombinierten diese Informationen mit Annahmen über das Ziel des Schaltkreises: Sie vermuteten, dass die Augen erfassen sollten, ob sich etwas im Blickfeld bewegt.

„An diesem Punkt fügte sich alles zusammen und wir konnten herausfinden, ob dieses Modell uns ein gutes Modell des Gehirns liefert“, sagt Janne Lappalainen, eine Doktorandin an der Universität Tübingen, die die Forschung leitete. Das kann man so sehen, denn das neue Modell sagte die neuronale Aktivität von 64 Neuronentypen im visuellen System der Fruchtfliege als Reaktion auf visuelle Eingaben voraus.

Das Modell reproduziert auch die Ergebnisse von zwei Dutzend experimenteller Studien. Diese Studien wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgeführt.

Das Besondere an dieser Studie ist, dass sie die Aktivität einzelner Neuronen nur anhand des Konnektoms vorhersagen kann. Dieser Ansatz hat das Potenzial, die Sichtweise auf die Funktionsweise des Gehirns zu verändern. Theoretisch können Wissenschaftler nun ein solches Modell verwenden und damit jedes Experiment simulieren und daraus detaillierte Vorhersagen generieren, die man dann im Labor verifizieren kann.

Die Forschungsergebnisse listen auf mehr als 450 Seiten Vorhersagen aus dem neuen Modell, einschließlich solcher zur Identifizierung von Zellen, von denen bisher nicht bekannt war, dass sie an der Bewegungserkennung beteiligt sind. Sie lassen sich nun auch im Nachhinein an lebenden Fliegen nachprüfen.

Zur Einordnung der Forschungsergebnisse führt Jakob Macke, ein leitender Autor des Papiers und Professor an der Universität Tübingen, aus: "Es gibt eine große Lücke zwischen dem statischen Schnappschuss des Konnektoms und der Dynamik der Echtzeitberechnung im lebenden Gehirn. Die Frage war, ob wir diese Lücke in einem Modell überbrücken können. Die Studie zeigt eine Strategie dafür."

(mil)