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ICRA in der Coronavirus-Krise: Robotik im Cyberspace

Hans-Arthur Marsiske
Robotik im Cyberspace

(Bild: sdecoret / shutterstock.com)

Wolfram Burgard über die Organisation einer wissenschaftlichen Konferenz während einer Pandemie.

Die ICRA (International Conference on Robotics and Automation) ist eine der größten wissenschaftlichen Konferenzen zur Robotik. Jedes Jahr treffen sich hier mehrere tausend Forscher, um über ihre neuesten Studien zu diskutieren. Die diesjährige ICRA hätte sich ab 31. Mai in Paris versammeln sollen, wurde aber in eine virtuelle Konferenz umgewandelt. Wolfram Burgard, Professor für Informatik an der Universität Freiburg und Vice President for Automated Driving Technology [1] am Toyota Research Institute, war an dieser Neuausrichtung maßgeblich beteiligt. Im Interview erläutert er, wie es dazu kam.

heise online: Herr Burgard, ursprünglich sollte die ICRA [2], eine der weltweit größten Konferenzen zur Robotik, von 31. Mai bis 4. Juni in Paris stattfinden. Als Program Chair waren Sie eng eingebunden in die Organisation. Wann ist Ihnen klar geworden, dass Covid-19 diese Pläne durchkreuzen könnte?

Burgard: Ich war da von vornherein wohl etwas pessimistischer und habe die Dinge früher kommen sehen als andere. Anfang März habe ich noch beim Toyota Research Institute (TRI) im Silicon Valley gearbeitet. Als dann die Berichte von der Epidemie in Italien kamen und die ersten Infektionszahlen im Silicon Valley bekannt wurden, habe ich mich entschlossen, nach Deutschland zurückzufliegen, um im Falle eines Lockdowns nicht von der Familie getrennt zu sein. Es war mir auch relativ schnell klar, dass dieser Lockdown lange anhalten wird und Massenmeetings auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein werden.

Prof. Dr. Wolfram Burgard

Wolfram Burgard, Professor für Informatik an der Universität Freiburg und Vice President for Automated Driving Technology am Toyota Research Institute.

(Bild: Universität Freiburg [3])

heise online: Den Organisatoren vor Ort in Paris dürfte es schwerer gefallen sein, das zu akzeptieren.

Burgard: Eine Konferenz wie die ICRA hat eine Vorbereitungszeit von fünf Jahren. Da müssen zunächst ein Konzept formuliert und Räume beschafft werden. Dutzende Male werden die Finanzen überprüft. Da steckt viel Arbeit drin. Entsprechend schwer ist es den lokalen Organisatoren gefallen, das alles aufzugeben. Für das wissenschaftliche Programm ist die Entscheidung nicht so dramatisch, aber natürlich will man mit so einer Veranstaltung auch die eigene Stadt präsentieren und noch einiges mehr bieten.

heise online: Für März war in Cambridge (UK) die ebenfalls recht große Konferenz HRI [4] (Human-Robot Interaction) geplant, die sehr kurzfristig reagieren musste: Zunächst wurden Teilnehmern aus besonders betroffenen Regionen eine Erstattung der Registrierungsgebühren angeboten, fünf Tage später die gesamte Veranstaltung abgesagt. Sie hatten etwas mehr Zeit, sich auch konzeptuell auf die veränderte Lage einzustellen. Welches waren da die ersten Überlegungen?

Burgard: Die erste Idee war es, die Veranstaltung auf den Herbst oder Winter zu verschieben, und es wurde nach Räumen gesucht, die ab September verfügbar gewesen wären. Fürs Rahmenprogramm waren ja Attraktionen wie ein Konferenzdinner im Louvre geplant, an denen erst einmal festgehalten wurde. Aber es wurde dann zunehmend klarer, dass die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit all das nicht zulassen würden. So haben wir uns schließlich entschieden, die Konferenz virtuell durchzuführen. Das war eine sehr schmerzhafte Entscheidung und kam wahrscheinlich auch zu spät, jedenfalls haben wir jetzt alle Hände voll zu tun, um diese Umstellung zu bewerkstelligen.

heise online: Die auffallendste Veränderung ist die Verlängerung der Konferenzdauer von fünf Tagen auf drei Monate. Wie kam das zustande?

Burgard: Es ist jetzt für jeden Vortrag ein zehnminütiges Video vorgesehen. Diese Videos werden von den Vortragenden vorab aufgenommen, auf unseren Server hochgeladen und dann über einen Streaming-Dienst, der weltweit über mehrere Server verfügt, zur Verfügung gestellt, um die Download-Last zu verteilen. An unserem Institut gestalten wir diese Videos als ganz normale Präsentation, bei der der Vortragende zusätzlich in einem kleinen Fenster zu sehen ist. Wir haben uns gegen Live-Präsentationen entschieden, weil die Zuschauer sich ja nicht in einem Raum versammeln können, sondern über alle Zeitzonen verteilt sind. Um unter diesen Umständen auch Fragen und Diskussionen zu ermöglichen, braucht es einfach mehr Zeit. Tatsächlich soll die Konferenz bis Ende Dezember online bleiben. Es wird dann zu jedem Vortrag einen Slack Channel geben, erreichbar über einen Link im Programm, in dem darüber debattiert werden kann, ähnlich wie bei Whatsapp.

heise online: Ist diese Diskussion dann nur schriftlich möglich oder kann man sich selbst auch per Video äußern?

Burgard: Videochats sind möglich, aber das entscheiden und organisieren letztlich die Teilnehmer. Wenn Sie dabei alle Zeitzonen berücksichtigen wollen, müssen Sie sehr früh an der Westküste der USA anfangen: Wenn es dort 6 Uhr morgens ist, zeigt die Uhr in Paris 15 Uhr, und in China und Japan ist es später Abend. Mit drei Plenarvorträgen und acht Keynotes werden wir so verfahren. Für diese jeweils etwa 20-minütigen Vorträgen wird es von 15 bis 16 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (CEST) ein Zeitfenster geben, das unmittelbare Reaktionen ermöglicht.

heise online: Sie werden aber anschließend als Aufzeichnungen verfügbar bleiben?

Burgard: Ja. Wir werden sie auch nach Ablauf des halben Jahres nicht wegwerfen. Aber was langfristig damit geschieht, ist noch nicht ganz klar. Einige Videos habe ich mir schon angesehen und finde sie sehr gelungen. Wie das mit den Fragen und Antworten funktionieren wird, müssen wir abwarten. Fehlen werden mir auf jeden Fall die zufälligen Begegnungen mit Personen und Themen, nach denen ich gar nicht gesucht habe. Ich will versuchen, ein paar Zoom Meetings unter dem Titel "Run into Wolfram" zu organisieren, für die ich den Link öffentlich mache. Mal schauen, was da passiert.

heise online: Tatsächlich war einer meiner ersten Gedanken, als ich sah, dass die ICRA virtuell ablaufen soll: Was ist denn mit den Kaffeepausen und all den anderen informellen Begegnungen, die den Reiz einer solchen Konferenz ausmachen?

Burgard: Es gibt zum Beispiel auch das Format "Lunch with the Leaders", das insbesondere jüngeren Teilnehmern die Möglichkeit geben soll, mit etablierteren Forschern auf zwanglose Weise in Kontakt zu kommen. Da wollen wir ebenfalls online etwas Ähnliches anbieten, wieder zwischen 14 und 16 Uhr CEST. Wegen dieses Termins gab es schon Beschwerden von der US-Westküste. Aber die sind ja ansonsten bevorteilt, etwa bei den Abgabeterminen für Papers: Die liegen üblicherweise um Mitternacht Westküstenzeit, was für Leute in Kalifornien gut machbar ist, für uns in Europa aber oft genug bedeutet, die Nacht durchzuarbeiten, um bis 9 Uhr den Einreichungen noch den letzten Schliff zu geben. Und danach kann man ja nicht ins Bett gehen, sondern hat noch andere Termine.

Die Kaffeepausen bieten Gelegenheiten für informelle Begegnungen, wie hier mit einem Telepräsenzroboter während der HRI 2018 in Chicago.

Die Kaffeepausen bieten Gelegenheiten für informelle Begegnungen, wie hier mit einem Telepräsenzroboter während der HRI 2018 in Chicago.

(Bild: heise online/Hans-Arthur Marsiske)

heise online: Wie kommen Sie aktuell mit diesen Zeitdifferenzen zurecht? Bei der Terminvereinbarung für dieses Interview haben Sie durchblicken lassen, dass Sie physisch zwar in Deutschland sind, mental aber auf der anderen Seite des Antlantiks.

Burgard: Ich arbeite derzeit nach Ostküstenzeit, also von 15 bis 24 Uhr europäischer Zeit. Das TRI hat ja auch ein Büro in Boston.

heise online: Das läuft sicherlich zum großen Teil über Telekonferenzen. Haben Ihnen diese Erfahrungen bei der Organisation der ICRA geholfen? Oder liegen die Größenordnungen dafür zu weit auseinander?

Burgard: Man lernt dabei schon Einiges. Allein schon, was es bedeutet, den Gesprächspartner sehen zu können. Ohne diese Möglichkeit sind Telekonferenzen extrem anstrengend. Deswegen haben wir den Konferenzteilnehmern auch empfohlen, bei den Videoaufzeichnungen ihrer Vorträge auch ein Porträt von sich selbst einzufügen. Fast in letzter Sekunde haben wir uns jetzt auch entschlossen, ein Panel einzurichten zum Thema "Covid-19 – How can Robotics help?“. Es wird organisiert von Autoren eines Artikels [5], der dazu kürzlich in "Science Robotics“ erschienen ist. Die Podiumsdiskussion wird jetzt, im Vorfeld der Konferenz, aufgezeichnet und während der ersten Konferenztage online gestellt mit der Möglichkeit, Fragen zu stellen und Kommentare abzugeben.

heise online: Telepräsenz ist ja ein klassisches Robotikthema. Unter den 1600 Beiträgen zur diesjährigen ICRA habe ich aber nur einen gefunden, der der aktuellen Problematik nahe kommt. Es ist das Paper MoA19.2 von Naomi T. Fitter et. al.: Are We There Yet? Comparing Remote Learning Technologies in the University Classroom [6]. Bei der HRI war die Ausbeute ähnlich mager [7]. Roboter sind offenbar noch weit davon entfernt, bei Robotikkonferenzen selbst eine wirkliche Hilfe zu sein.

Burgard: Ich habe ja einen Telepräsenzroboter bei mir im Labor, den Beam [8]. Aber für eine Konferenz wie die ICRA bräuchten wir vielleicht 2000 davon. Die müssen nicht nur zum Konferenzort transportiert und dort bedient und gewartet werden. Sie müssen auch wissen, was Sie hinterher damit anstellen wollen. Das gleiche Problem stellt sich bei Poster Sessions, die mit Bildschirmen statt mit ausgedruckten Postern durchgeführt werden. Die Miete für diese Bildschirme ist sehr teuer, Kaufen wäre günstiger. Aber wo lassen Sie die Dinger nach der Konferenz? Sie können sie auch nicht einfach an teilnehmende Studenten verschenken, weil die dann das Problem des Transports lösen müssten.

heise online: Gab es bei der Vorbereitung der Konferenz so etwas wie eine Hierarchie von Kriterien, die erfüllt werden sollten, eine Ordnung, was unbedingt gewährleistet werden sollte und was notfalls verzichtbar wäre?

Burgard: Mir war das Wichtigste tatsächlich das wissenschaftliche Programm, also die Paper selbst sowie die Präsentationen, die in kurzer Zeit deren wesentlichen Inhalt vermitteln. Gleich danach folgt die Möglichkeit der Interaktion und Diskussion. Dabei halte ich es für nicht ausgeschlossen, dass die virtuelle Konferenz dafür womöglich effektivere Möglichkeiten bietet. Zu Posterpräsentationen ist es ja häufig so, dass sich bei prominenten Autoren so viele Leute versammeln, dass kaum jemand eine Chance hat, eine Frage zu stellen oder auch nur der Diskussion zu folgen. Das könnte jetzt über Messenger-Dienste besser laufen. Als schwieriger hat sich dagegen die Einbindung der Industrie erwiesen. Es gibt bei der ICRA sonst immer einen Ausstellungsbereich, in dem sich Sponsoren und andere Unternehmen präsentieren können. In der Kürze der Zeit haben wir aber keine Lösung gefunden, um das virtuell umzusetzen.

heise online: In der vorigen ICRA gab es zum ersten Mal auch mehrere künstlerische Installationen und etliche Forscher hatten Roboter mitgebracht und ließen sie nach dem Vortrag herumlaufen. So etwas fehlt natürlich in einer virtuellen Konferenz. Aber Sie haben ja gerade angedeutet, dass die Virtualisierung durchaus auch Vorteile bringen kann. Mögen Sie ein wenig darüber spekulieren, wie die Corona-Krise wissenschaftliche Konferenzen vielleicht dauerhaft verändern könnte?

Burgard: Es gibt natürlich Stimmen, die mehr Nachhaltigkeit fordern und danach fragen, ob nicht ein großer Teil der Konferenzen virtuell durchgeführt werden kann. Würde es nicht reichen, sich vielleicht einmal im Jahr in Person zu treffen, statt ständig hin und her zu fliegen? Das ist schon ein gewichtiges Argument. Andererseits befreit das Reisen natürlich von den Alltagsterminen, die Zuhause für größere Ablenkung sorgen, und ermöglicht ein konzentrierteres Arbeiten.

heise online: Führt diese erzwungene Erfahrung mit einer virtuellen Konferenz vielleicht auch zu neuen Fragestellungen? Vielleicht ist zum Beispiel bei Telepräsenzrobotern die Bedeutung des menschlichen Körpers und der Bewegung bisher unterschätzt worden: Der Umstand, dass sich nur noch der Roboter bewegt, während sein Bediener ruhig im Sessel sitzt und nur Maus oder Joystick bedient, dürfte ja zu einem völlig anderen Konferenzerlebnis führen. Ich muss bei so einer Veranstaltung immer wieder mal aufstehen und herumlaufen können. Die Vorstellung, stundenlang nur auf den Monitor meines Laptops zu schauen, finde ich erschreckend.

Burgard: Aus diesem Grund ist es ja so wichtig, die Konferenz zeitlich zu entzerren. Natürlich kann man niemanden zumuten, acht Stunden lang auf den Rechner zu starren, das geht höchstens mal für ein oder zwei Stunden. Aber dadurch, dass mehr Zeit zur Verfügung steht, kann man jetzt vielleicht zunächst das Paper lesen und dann gezielter nachfragen. Außerdem gibt es keine parallel ablaufenden Sitzungen mehr, die einen häufig daran hindern, Vorträge zu besuchen, die einen eigentlich interessiert hätten. Mit überfüllten Räumen, in denen der Sauerstoff knapp wird, haben wir ebenfalls nicht zu kämpfen.

heise online: Ein weiterer Vorteil sind die Kosten. Die ICRA ist für die Teilnehmer extrem preiswert geworden.

Burgard: Wir hatten sogar überlegt, sie ganz frei und kostenlos durchzuführen. Das hätte aber das Risiko erhöht, Opfer von Spam-Attacken zu werden. Daher gibt es jetzt eine relativ geringe Registrierungsgebühr.

(bme [9])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4726921

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tri.global/team/dr-wolfram-burgard
[2] http://icra2020.org/
[3] http://www2.informatik.uni-freiburg.de/~burgard/
[4] http://humanrobotinteraction.org/2020/
[5] https://robotics.sciencemag.org/content/5/40/eabb5589
[6] https://ras.papercept.net/conferences/conferences/ICRA20/program/ICRA20_ContentListWeb_1.html#moa19_02
[7] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Roboter-gegen-Corona-Krise-4690427.html
[8] https://suitabletech.com
[9] mailto:bme@heise.de