Insolvenz von Gigaset: Kein Wunder – und das, obwohl das Telefon boomt

Gigaset will nach der Insolvenz eine Zukunft haben. Die Analyse zeigt: Für die muss sich der Hersteller endlich der Teams-Realität seiner Firmenkunden stellen.

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(Bild: Lutsenko_Oleksandr/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Benjamin Pfister
Inhaltsverzeichnis

Der Antrag auf Insolvenzverfahren für die Gigaset AG und die Tochter Gigaset Communications GmbH hat aktuell noch keine direkten Auswirkungen auf Endkunden. Die Entwicklungs-, Produktions- und Vertriebstätigkeiten werden gemäß Angaben des Herstellers zunächst unverändert fortgesetzt.

Für Unternehmens- und Behördenkunden stellt sich jedoch die Frage, wie es nun weitergeht. Gerade die Linie der DECT-Endgeräte hat eine hohe Marktdurchdringung und wird in vielen Telekommunikationsumgebungen, wie beispielsweise in Krankenhäusern, Produktionsumgebungen, Schulen und Kindertagesstätten eingesetzt. Dieser Markt stagniert jedoch.

Wenn die angekündigte "nachhaltige Restrukturierung der wirtschaftlichen Basis" scheitert, könnte dies bedeuten, dass beispielsweise die Versorgung mit Ersatzgeräten, notwendige Komponenten für Systemerweiterungen, aber auch die Zubehörversorgung wie spezielle Akkus oder Ladegeräte nicht mehr gegeben sind. Somit scheint die Investitionssicherheit in eine neue Gigaset-Lösung nur noch bedingt gegeben zu sein und Bestandskunden im Enterprise-Umfeld sollten überdenken, ob sie ihre Lagerhaltung etwas erhöhen sollten.

Jedoch bietet der DECT/GAP-Standard eine hohe Kompatibilität. Somit können defekte DECT-Endgeräte, gegebenenfalls mit Funktionseinschränkungen wie bei den Telefonbuchzugriffen, durch Endgeräte von anderen Herstellern ersetzt werden. Komplexer wird es bei Infrastrukturkomponenten, wie SIP-DECT-Basisstationen, die als IP-Endgerät auch allen Gefährdungen in IP-Netzen ausgesetzt sind und regelmäßige Updates benötigen. Dies könnte bei einem gescheiterten Sanierungsverfahren bei Gigaset für die Kunden kritisch sein und einen proaktiven Griff in den Geldbeutel bedeuten.

Während im Privatkundenumfeld die Festnetztelefonie durch die Nutzung von Mobilfunk zurückgeht, hat diese im Enterprise-Umfeld von Telekommunikationslösungen noch eine hohe Bedeutung. Gleichzeitig wechseln jedoch viele Unternehmen von Hardwaretelefonen auf Softphones – mit allen Vor- und Nachteilen. Nur sehr große Unternehmen können für die schnurlose Telefonie campusweite 5G-Netze bauen (lassen) und betreiben. Jedoch gibt es in diesem DECT-Markt keine große Bewegung. Es gibt keine neuen "Killerfeatures" für diese Lösungen, worüber sich große Mengen an Endgeräten verkaufen lassen.

Die neuen Geschäftsfelder mit Android-Smartphones, Smart-Home-Angeboten, aber auch eigenen IP-Telekommunikationsanlagen konnten den stagnierenden Kernmarkt nicht kompensieren. Nach der Abspaltung aus dem Mutterkonzern Siemens im Jahr 2008 konnten die eigenen Telekommunikationsanlagen, neudeutsch auch als Unified-Communication-Lösungen bezeichnet, keine hohe Marktdurchdringung erreichen.

Die dort aktuell gehypten Cloud-Dienste der großen amerikanischen Anbieter, wie Teams Phone, Zoom Phone, Webex Calling, aber auch aus Deutschland, wie die Cloud PBX der Telekom oder vom Sindelfinger Hersteller Innovaphone, können die Kunden eher überzeugen.

Die Integration von IP-DECT in MS Teams kam für Gigaset zu spät und obendrein sind die schnurgebundenen IP-Telefone des Herstellers nicht für Teams geeignet. Hier hätte man sich breiter aufstellen müssen und auch den UC-Markt der Cloud-Anbieter besser versorgen können. Stattdessen haben sich Endgeräte von Snom, Yealink und Audiocodes etabliert. Eine Integration beliebiger Endgeräte ist dort teils nicht möglich, da die Provisionierungs- und Managementprozesse dazu vorhanden sein müssen. Was im SMB-Markt häufig noch in Handarbeit durch den Systemintegrator funktioniert, ist in Enterprise-Umgebungen untauglich.

Eine Eigenentwicklung oder ein Zukauf eines Cloud-UC-Pakets mit gut integrierten Provisionierungs- und Managementlösungen der schnurgebundenen SIP-Telefone und SIP-DECT-Umgebung samt dazugehöriger Endgeräte als „All-in-One-Lösung von Gigaset“ scheint in der Rückbetrachtung eine verpasste Chance zu sein.

Bei den on Premises DECT-Systemen kommen inzwischen bei neuen Umgebungen häufig generische SIP-DECT-Lösungen von Ascom oder Spectralink zum Einsatz, anstatt früher bei TDM-basierten (Time Division Multiplex) Lösungen proprietäre Basen. Hier punktete Gigaset mit der Integration der damaligen Siemens Hicom und Hipath TK-Systeme mit DECT-Lösung. Im IP-Umfeld hat Gigaset eher den SMB-Markt anstatt die Enterprise-Kunden mit seinen SIP-DECT-Basen bedient. Diesen Markt bediente Gigaset nur über OEM-Produkte, wie beispielsweise für Unify Atos (ehemals Siemens Enterprise Commuications).

Eine eigene Enterprise-WLAN-Lösung hätte einem "Funkspezialisten" ebenfalls gut zu Gesicht gestanden – gegebenenfalls sogar in Kombination und mit einer Managementlösung für Unternehmen, um die Qualität aller Schnittstellen in einer Oberfläche überwachen zu können.

Will Gigaset überleben, muss es seine Angebote stärker auf die aktuelle Marktsituation mit Cloud-basierten Kommunikations- und Kollaborationstools (UCC) zuschneiden – und neue integrierte Lösungen mit Mehrwert für den Endkunden im Enterprise-Umfeld finden. Die margenschwache Privatkundensparte wird sicherlich kein Weg aus der Misere sein. Die Fokussierung rein auf DECT-Endgeräte zum schlichten Telefonieren reicht im Jahr 2023 nicht mehr aus. Die Endkunden erwarten smartere Produkte und haben gleichzeitig den deutschen Qualitätsanspruch.

Eine Kooperation mit AVM im Privatkundensegment hätte Potenzial gehabt. Aber auch die Entwicklung bei AVM steht inzwischen in den Sternen.

(fo)