Interview mit Dave Jordano

Detroit – am Boden, aber noch lange nicht k.o.! In den Trümmern der ehemaligen Auto-Metropole hat der Dokumentarfotograf Dave Jordano vielversprechende Keime einer Wiedergeburt entdeckt. Dabei hat er sich nicht wie andere Fotografen auf die Bauruinen konzentriert, sondern darauf, wie die verbliebenen Menschen in den heruntergekommenen Wohnvierteln ihr Leben eingerichtet haben.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Dr. Thomas Hafen

Einst hatte die Autostadt Detroit fast zwei Millionen Einwohner und war der Inbegriff des amerikanischen Traums von grenzenloser Mobilität in jeder Hinsicht. Heute sind davon nur noch Ruinen übrig. In den Trümmern entdeckt der Fotograf Dave Jordano kleine Pflänzchen der Hoffnung – und porträtiert die unglaubliche Widerstandskraft der Menschen und den Überlebenswillen der Bewohner. Dr. Thomas Hafen hat Dave Jordano für seen.by interviewt.

Donk on Connant St., Detroit 2010

(Bild: seen.by, Dave Jordano)

Sie sind in Detroit geboren, haben die Stadt aber – wie so viele – verlassen. Wann gingen Sie nach Chicago und welches waren Ihre Beweggründe?

Detroit war damals eine Autostadt – entweder du hast als Berufsfotograf Autos abgelichtet oder du bist verhungert. Ich wollte aber viel lieber Stillleben im Studio fotografieren, deshalb zog ich 1977 nach Chicago. Die Stadt ist nur vier Autostunden von Detroit entfernt – aber, was den Kundenstamm anging, hätten die Unterschiede nicht größer sein können. Chicago ist eines der Hauptwirtschaftszentren der USA, mehrere Fortune-500-Unternehmen haben ihr Zentrale hier, was für ein reiches Angebot an Kunden sorgte. Dort habe ich mehr als 30 Jahre lang als freiberuflicher Fotograf vor allem für Werbeagenturen gearbeitet und mich auf Food- und Produktfotografie spezialisiert.

Wie kamen Sie auf die Idee, nach so langer Zeit wieder in Detroit zu fotografieren?

In meinem Fotografie-Studium am Detroiter College for Creative Studies war mein Schwerpunkt großformatige Dokumentarfotografie gewesen. In einem meiner Studienprojekte fotografierte ich Gebäude, die verfielen oder abgerissen werden sollten. Nun wollte ich dieselben Orte erneut besuchen und den Fortschritt – oder den Verfall – der Stadt fotografisch sichtbar machen. Innerhalb einer Woche hatte ich meine Spuren zurückverfolgt und fast alle meiner damaligen Stationen fotografiert. Während dieser Arbeit spürte ich jedoch, dass mich etwas ganz anderes viel mehr interessierte.

Glemie, Detroit 2011

(Bild: seen.by, Dave Jordano)

Wie waren Ihre Gefühle als Sie nach 30 Jahren der Abwesenheit für dieses Projekt wieder nach Detroit kamen?

Um ehrlich zu sein, war ich auf den Grad der Zerstörung nicht vorbereitet. Die Größenordnung, in der die Stadt in den vergangenen 30 Jahren zerfallen ist, übersteigt alle Berichte und alles, was Sie jemals an Bildern oder Filmen im Internet gesehen haben. Man muss es selbst erleben, um das Ausmaß fühlen zu können. Es ist einfach überwältigend. Selbst nach drei Monaten, in denen ich für dieses Projekt fotografiert habe, habe ich mich nicht daran gewöhnt. Es ist geradezu ironisch: Ich war viel schockierter und entsetzter als diejenigen, die schon seit Jahren in einem Zerfallsprozess leben, der so allumfassend und allgegenwärtig ist, dass er kaum noch jemanden interessiert. Die Grundstimmung scheint eher von Resignation und Gleichgültigkeit geprägt.

Und doch strahlen Ihre Bilder, Zuversicht und Energie aus …

Viele Fotografen haben schon vor mir die verlassenen Fabriken und Bürogebäude und die riesigen Freiflächen urbaner Wüstenei dokumentiert, die die Stadt zerfressen. Für die Menschen hat sich aber kaum einer interessiert. Um nicht in die gleiche Falle zu tappen und nur Katastrophenszenarien abzulichten, habe ich mich auf das Leben in den verbliebenen Wohnvierteln konzentriert, das Schicksal der Menschen und wie sie mit der Lage zurechtkommen.

Algernon and Babe, Detroit 2010

(Bild: seen.by, Dave Jordano)

Sie sind Detroit nach wie vor verbunden – das spürt man deutlich aus Ihren Bildern. Was gefällt Ihnen an Detroit auch heute noch? Könnten Sie sich vorstellen, wieder hier zu leben?

Ich habe fast die die ganze erste Hälfte meines Lebens in Detroit und seiner Umgebung verbracht und lebe auch heute noch im mittleren Westen. Ich mag die Menschen hier, die Architektur, das Wetter und die Kultur. Das ist eine Verbundenheit, die ich in anderen Teilen des Landes nicht spüre. Detroit ist einzigartig. Jeder drückt der Stadt die Daumen, dass sie sich wieder fängt. Detroit ist angeschlagen, aber nicht k.o. Ich spüre diesen Stolz jedes Mal, wenn ich zum Fotografieren hierher komme, es ist das Motto für viele geworden, die hier leben. Viele Gruppen haben sich gebildet, die Menschen am Rande der Gesellschaft unterstützen. Von Suppenküchen über Obdachlosenasyle bis hin zur Hausbesetzerbewegung gibt es eine überwältigende Welle der Hilfsbereitschaft. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich könnte mir definitiv vorstellen, wieder in Detroit zu leben.

Von welchen Kriterien haben Sie sich bei Ihrer Motivwahl leiten lassen?

Es ist im Grunde der Versuch, einer Stadt ein Gesicht zu geben, die als urbane Wüstenei dargestellt und in eine Schublade gesteckt wurde. Es ist wichtig für mich, den Vorgängen hier mit einer menschlicheren und mitfühlenderen Haltung zu begegnen. Der Schwerpunkt meiner Arbeit mag überproportional stark in den wirtschaftlich schwachen Gegenden liegen, aber dort spielen eben die meisten der Geschichten, die mich interessieren. Persönliche Beobachtungen und Geschichten über das soziale, kulturelle und ökonomische Netz, das die Stadt heute prägt, sind die Grundvoraussetzung für meine Arbeit.

Melanie, Detroit 2011

(Bild: seen.by, Dave Jordano)

Werden Sie weiter in Detroit arbeiten? Falls ja, welche Aspekte der Stadt wollen Sie als nächstes dokumentieren?

Ich arbeite normalerweise drei bis vier Jahre an einem Projekt. Wenn das also ein "normales" Projekt ist, dann bin ich mittendrin. ich arbeite jedoch intuitiv und lasse das Projekt entscheiden, in welche Richtung es sich entwickeln möchte. Ein Seitenzweig des Detroit-Projekts ist eine Serie von Porträts weißer drogenabhängiger Prostituierter, an der ich gerade arbeite. Es sind einfache, direkte Porträts, die Fragen nach Identität und den Folgen des Handelns aufwerfen.

Detroit ist zum Symbol für den gescheiterten amerikanischen Traum geworden. Ihre Bilder sind voller Hoffnung. Glauben Sie, dass sich aus den Trümmern ein neuer amerikanischer Traum erheben könnte und wenn ja: Wie sähe dieser Traum aus?

Ich glaube, Detroit kann sich erholen, aber die Stadt wird als etwas völlig anderes wieder auferstehen. Eine Stadt, die mehr als 50 Prozent ihrer Bevölkerung verloren hat, muss nach neuen Wegen suchen und sich neu erfinden. Dafür brauchen wir eine verantwortungsvolle Regierung und unternehmerische Führung. Beides scheint im Moment zu fehlen.

Während weltweit die Landflucht anhält und Städte zu immer größeren Molochen anwachsen, sehen wir in amerikanischen Metropolen wie Detroit den Zerfall urbaner Zentren. Halten Sie das für ein singuläres Ereignis oder handelt es sich ihrer Ansicht nach um einen Trend – eine fast zwangsläufige Evolutionsstufe der Urbanisierung?

Detroit hatte eine extrem einseitige Wirtschaftsstruktur – es stellte nur Autos her, nichts sonst. Als die Autoindustrie infolge der Ölkrise und der Ignoranz des Managements, das die ausländische Konkurrenz unterschätzte, zusammenbrach, fiel die Stadt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ethnische Spannungen verschärften die Probleme. Sie gipfelten in den Rassenunruhen von 1967 und trieben die weiße Bevölkerung scharenweise aus der Stadt. Dazu kam noch eine miserable Stadtverwaltung – Korruption war an der Tagesordnung. All diese Faktoren können als Teil einer singulären Katastrophe charakterisiert werden, denn kein anderes Szenario kann erklären, was in Detroit geschehen ist. In gewissem Sinne hat der Erfolg Detroits auch seinen Untergang verursacht.

Kat and Rick, Packard Plant, Detroit 2010

(Bild: seen.by, Dave Jordano)

Projekte wie Socialdocumentary.net versuchen mit Bildern das Bewusstsein für soziale Probleme zu wecken und Ungerechtigkeiten anzuprangern. Auch Ihre Fotos sind dort zu sehen. Haben Sie die Hoffnung, so die Ansichten der Menschen oder sogar ihr Verhalten zu ändern?

Absolut! Menschen werden Vegetarier oder treten PETA bei, weil Sie Bilder von Schlachthöfen gesehen haben. Sie spenden freigebiger, weil Sie gesehen haben, wie Freiwillige in Ghana Brunnen für die Dorfbewohner graben. Ansel Adams hat seine Bilder den Kongressabgeordneten gezeigt und so die Naturschutzgesetzgebung vorangetrieben. Jeder verarbeitet Bilder anders, aber es besteht die wunderbare Chance, eine Momentaufnahme im Gedächtnis fortdauern zu lassen – als etwas Festgefügtes und Unveränderbares. Das ist meiner Ansicht nach eine mächtige Sache. Was mir Sorge macht, ist die Menge an exzessiver Gewalt, die heute in den Medien gezeigt wird. Ich befürchte, dass diese Allgegenwärtigkeit schrecklicher Bilder zu Apathie führen wird – wenn sie es nicht bereits getan hat. Wir sind gegen Elend und Leid so unempfindlich geworden, dass die Gefahr besteht, einfach alles hinzunehmen.

Im Unterschied zu Ihren Arbeiten aus Detroit wirken einige der Bilder aus dem Zyklus „Prairieland“ leer, trostlos und traurig. Haben Sie wirklich eine gewisse Melancholie und Traurigkeit im ländlichen Amerika gespürt?

Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, als ich das erste Mal in das ländliche Illinois fuhr. Ich habe praktisch mein gesamtes Leben als Erwachsener in einer engen Großstadt voller Menschen verbracht. Das Konzept, weit weg von allem und isoliert von anderen Menschen zu leben, war mir völlig unbekannt. Das Projekt sollte die Interaktion zwischen der Landschaft und den Menschen untersuchen und eine Verbindung herstellen. Gefühle wie Einsamkeit, Melancholie und Leere kamen hoch, als ich begann meine eigene Reaktion auf die Landschaft zu interpretieren und diese Fotos sind ein Ausdruck dieser Gefühle. Neben den dunklen, ernsteren Tönen hat das Werk meiner Ansicht nach aber auch Aspekte einer fast humoristischen Eigenwilligkeit und Verschrobenheit.

In „Articles of Faith“ haben Sie religiöse Orte portraitiert. Sind Sie selbst ein religiöser Mensch? Wie wichtig ist Ihrer Ansicht nach Religion für den Menschen?

Ich bin nicht sehr religiös, obwohl ich in einem sehr christlichen Haus aufgewachsen bin – meine Eltern waren wiedergeborene Christen. Ihr Glaube half ihnen, schwere Zeiten durchzustehen, als bei meinem Bruder Schizophrenie diagnostiziert wurde. Wenn Religion der Klebstoff ist, der dein Leben zusammenhält – wer wäre ich, dagegen zu argumentieren?

Das Projekt "Articles of Faith" sollte die Symbole sichtbar machen, die für religiöse Menschen Trost und Zugehörigkeit verkörpern. Die kleinen afro-amerikanischen Ladenkirchen, die ich fotografiert habe, wurden von Pastoren eingerichtet, deren Predigtstil so unterschiedlich und persönlich ist, wie die Räume, die sie geschmückt haben. Dieser individuelle und oft exzentrische Ansatz erfüllt sehr spezielle persönliche Wünsche und Bedürfnisse und so kann es dazu kommen, dass mehrere kleine Kirchen nebeneinander im selben Häuserblock aufgereiht sind. Jede von ihnen bietet eine andere religiöse Erfahrung sowohl im visuellen als auch im spirituellen Sinn.

Sie haben mehr als 30 Jahre für die Werbeindustrie gearbeitet. Warum haben Sie 2010 damit aufgehört?

Als ich 2001 damit begann, künstlerisch und dokumentarisch zu fotografieren, trat die kommerzielle Seite langsam in den Hintergrund. Ich hielt das Geschäft bis 2010 aufrecht und entschloss mich schließlich, dass ich meine Aufmerksamkeit nicht beiden Tätigkeiten widmen konnte. Meine kommerzielle Fotografie und meine persönliche Arbeit waren stilistisch so unterschiedlich, dass es sehr schwierig wurde, beide zu bedienen. Ich fühlte mich auch mir selbst gegenüber verpflichtet, etwas zu machen, das bedeutsam und nachhaltig ist und das von Herzen kommt – und jetzt habe ich die Gelegenheit dazu.

Viele Ihrer Projekte verfolgen Sie über Jahre hinweg. Welche Ihrer Projekte sind in diesem Stadium des "Work in Progress"? Planen Sie neue Projekte - falls ja: welche?

Ich habe mir angewöhnt, immer nur an einem Projekt zur gleichen Zeit zu arbeiten. Ich warte also, bis ich das Gefühl habe, dass das Detroit-Projekt sich seinem Abschluss nähert und etwas Neues sich herauskristallisiert. Das wird irgendwann passieren und wenn es passiert werde ich diesem Weg folgen. Vielleicht fotografiere in noch einige Jahre in Detroit – wer weiß. Diese Geschichte könnte mich durchaus noch eine Weile interessieren.

Das Interview führte Dr. Thomas Hafen für seen.by. Auf deren Internetseite gibt es zahlreiche Motive von Dave Jordano auch zum Ausdrucken auf Dibond, Acrylglas oder Leinwand.

Weitere Informationen zu Dave Jordano finden Sie auf seiner Homepage. (pen)