Kann denn Liebe strafbar sein?
Eine Empfehlung des deutschen Ethikrates zur Aufhebung des Inzestverbots löst bei Konservativen Reflexe aus
Ein verschlossener junger Mann kehrt auf eine einsame Insel im Donaudelta zurück und lernt dort eine Frau kennen, von der er zu dem Zeitpunkt nicht weiß, dass sie seine Schwester ist. Sie verlieben sich ineinander und halten an der Beziehung fest, als sie von ihrem Verwandtschaftsverhältnis erfahren. Ein von religiösen Eiferern aufgestachelter Mob macht dann kurzen Prozess.
Das ist die Handlung des preisgekrönten Films Delta [1]. Der Stoff, den er behandelt, die Geschwisterliebe, ist sehr real. Mittlerweile treten Betroffene an die Öffentlichkeit, die nach dem § 173 des Strafgesetzesbuches [2], der "Beischlaf zwischen Verwandten" bestraft, angeklagt und verurteilt wurden, weil sie sich ineinander verlieben, obwohl sie Geschwister sind. Das Bundesverfassungsgericht [3] und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte [4] haben diese Gerichtspraxis bestätigt.
Politik der Entkriminalisierung und sexuellen Selbstbestimmung
Jetzt hat der Deutsche Ethikrat [5] diese Urteile zum Anlass für seine Empfehlung [6] zur Revision des § 173 [7] genommen. Die Begründung lautet:
Die Argumente passen in eine Gesellschaft, in der die Familie nicht mehr ein mit viel religiösen Brimborium geschlossener Bund für das Leben, sondern eine Zweckgemeinschaft auf Zeit ist.
Die Mehrheit des Ethikrates hat damit die Grundsätze einer säkularen Gesellschaft ernst genommen, in der niemand deswegen bestraft werden soll, weil er ein Tabu verletzt. Eine Minderheit von 9 Stimmen im Ethikrat wollte an der jetzigen Regelung festhalten und begründete ihre Entscheidung damit, dass sie es für eine bleibende Aufgabe der Familie hält, "eine Lebensform für verlässliche Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern zu konstituieren".
Union geißelt "sittenwidrigen Vorstoß"
Die Empfehlung des Ethikrates ist vor allem bei Politikern der CDU/CSU auf heftige Kritik gestoßen. Dabei wurden auch Formulierungen gebraucht, die seit jeher verwendet werden, um sexuelle Praktiken von Minderheiten zu stigmatisieren. In der Erklärung des innenpolitischen Sprechers CDU/CSU, Stephan Mayer [8] zur Empfehlung des Ethikrats sind gleich mehrere dieser Reizbegriffe enthalten, die zur Erzeugung von Ressentiments taugen.
So spricht er von einem "sittenwidrigen Vorstoß" und benutzt damit einen schillernden Begriff, der eigentlich in einem Rechtsstaat keinen Platz haben dürfte. Während ein Regel- oder Gesetzesverstoß oder eine Ordnungswidrigkeit ganz klar definitiert sein muss, stellt sich die Frage, was eine Sittenwidrigkeit eigentlich sein soll? Ist es der Verstoß gegen das was zur Norm erklärt wurde oder ein Verstoß gegen das "gesunde Volksempfinden", das aus historischen Gründen in Deutschland seltener angerufen wird?
Auch die weitere Erklärung von Mayer enthält solche Ressentiments:
Soll mit dem Begriff der "Versündigung" ein Tatbestand eingeführt werden, der einem säkularen Staat fremd ist? Jemand kann sich strafbar machen, wenn er gegen ein Gesetz verstößt. Versündigen aber kann sich nur ein religiöser Mensch innerhalb seines Glaubenssystems.
Auch der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktionen, Marcus Weinberg [9], sparte bei seiner Kritik an der Empfehlung des Ethikrats nicht mit Ressentiments. Damit würde der "Schutzraum von Familien destabilisiert". Kinder hätten ein Recht, in der Familie frei von inzestuösen Handlungen aufzuwachsen. Der Ethikrat hatte allerdings Inzest zwischen Minderjährigen und zwischen Erwachsenen und Kindern ausdrücklich von seiner Empfehlung ausgeschlossen.
URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-2404009
Links in diesem Artikel:
[1] http://www.arte.tv/de/delta/2030416,CmC=2051054.html
[2] http://dejure.org/gesetze/StGB/173.html
[3] http://www.taz.de/Urteil-bestaetigt-Inzestverbot/!14429/
[4] http://www.taz.de/Urteil-des-Europaeischen-Gerichtshofes/!91353/
[5] http://www.ethikrat.org/
[6] http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-inzestverbot.pdf
[7] http://www.ethikrat.org/presse/pressemitteilungen/2014/pressemitteilung-08-2014
[8] http://www.mayerstephan.de/
[9] http://www.marcusweinberg.de/
Copyright © 2014 Heise Medien