Kirchen-Broschüre über virtuelle Spiel- und Lebenswelten

Eine Broschüre der evangelischen Kirche erforscht die Rolle der Religion in Computerspielen, die Qualität von Facebook-Freundschaften und die Ästhetik der virtuellen Realität.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Ulrike Heitmüller

Die Broschüre der EZW zu den virtuellen Welten kann man nicht herunterladen, nur auf Papier bestellen.

Der medientechnische Umbruch wird die Kirchen und Religionen tiefgreifend verändern – so lautet die Grundthese von Elke Hemminger und Christian Ruch. Die beiden Autoren haben kürzlich eine 56-seitige Broschüre mit dem Titel „Virtuelle Welten“ in der Reihe EZW-Texte der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) veröffentlicht.

Sie beleuchten Internet und virtuelle Realität über drei Phänomene: Ruch schreibt unter dem Gesichtspunkt der Medienästhetik über virtuelle Realität, Hemminger über Religion im Computerspiel, Ruch wiederum über Facebook.

Ruch sieht Hyperrealität als Zeichen der Posthistorie – der Mensch sei inzwischen in einer Weise schöpferisch tätig, in der die Unterscheidung zwischen „real“ und „virtuell“ schwierig oder sogar unmöglich sei. Die Welt zerfalle, dank der neuen Kommunikationsmöglichkeiten, in „tribes“ und „communities“. Diese seien im Gegensatz zu den traditionellen Sozialbeziehungen wie Familie oder Nationalität zeitlich und auf bestimmte Lebensbereiche begrenzt.

Die Möglichkeit zur Auswahl der Communities überfordere den User. Andererseits sei die Kommunikation virtuell und dadurch einfacher, außerdem könne man Computer und WWW auch nutzen, ohne sie zu verstehen. Letztlich, so Ruch, sei unsere mediale Zukunft ein Leben zwischen Traum und Wirklichkeit, der Anbruch einer neuen Romantik.

Religion wird als Magie dargestellt

Religion im Computerspiel wurde bislang kaum erforscht, am allerwenigsten hierzulande. Selbst Kategorien fehlten: Die Kategorisierung „normaler“ Computerspiele greife nicht, schreibt Hemminger, und schlägt stattdessen vier eigene Kriterien vor: Spielerperspektive (God Mode oder Hero Mode), Präsenz religiöser Elemente zwischen Spielbestimmung und Stilmittel, Herkunft religiöser Elemente aus spezifischer Tradition oder Eklektizismus und schließlich das Verhältnis von Online- und Offline-Räumen zwischen "Magic Circle" und "Mergence of Spaces".

Hemminger vermutet, dass Religion selten als eigenständiger Inhalt wahrgenommen werde, sondern eher im Zusammenhang mit der Rahmenhandlung der Spiele. Somit spiegele die Religion die Alltagserfahrung der Entwickler und Spieler wider. Religion in Computerspielen werde meist als Magie dargestellt, und Transzendenz erscheine fast gar nicht.

Im Kapitel über Facebook hält Ruch die Plattform für ein Forum der Fragmentierung traditioneller Beziehungen in tribes und communities. Freunde seien „Freunde als ob“, Facebook ermögliche eine „Kommunikation im geschützten Biotop der postmodernen Oberflächlichkeit und damit eigentlich auch nur eine Kommunikation als ob.“

Nur Blabla auf Facebook

Man könne zwar zum Beispiel alte Freunde wiederfinden, aber die Kommunikation bleibe meist beim plaudernden „Blabla“. Darum merke man nicht, dass man sich auseinanderentwickelt habe. Zwar könne auch aus Facebook-Bekanntschaften mehr entstehen, aber bei Facebook selber gebe es keine echten Freundschaften und keine echte Kommunikation.

Erstaunlich, dass ausgerechnet in der Schriftenreihe einer Kirche ein Text zum Thema „Virtuelle Welten“ erscheint. Schließlich hätten, schreiben die Autoren, gerade die beiden großen christlichen Kirchen lange gebraucht, ehe ihre Strukturen, Angebote und Inhalte Eingang ins WWW gefunden hätten. Das finden Hemminger und Ruch bedenklich, vor allem angesichts des revolutionären Potenzials der Entwicklung des Internet.

Aber die EZW bringt tatsächlich immer wieder interessante Schriften über Phänomene der Neuen Medien heraus, etwa über die Faszination am Weltuntergang oder die Frage, ob Mangas religiöse Bücher sind.

Hemminger bemerkt, dass sich virtuelle Welten als wichtiger Handlungsspielraum für kirchliche Angebote gezeigt hätten. Sie seien unverbindlicher und dadurch attraktiver für kirchenferne User: Diese Entwicklung fordere ein Umdenken bezüglich der Strukturen von persönlichem und ehrenamtlichem Engagement. Sollen Virtuelle Welten ein neues Arbeits- und vielleicht sogar Missionsfeld für die Kirchen darstellen?

Trotzdem, so ganz geheuer scheinen die virtuellen Welten der EZW nicht zu sein – so bewirbt man die Broschüre mit Sätzen wie: „In Zeiten von Gemeinschaftsverlust und Beziehungsarmut haben sich neue Kommunikationsmedien wie etwa das Smartphone rasant verbreitet, das heute schon von 38 Prozent der deutschen Bevölkerung benutzt wird.“ Ob wir wirklich in Zeiten von Gemeinschaftsverlust und Beziehungsarmut leben, sei dahingestellt. (cwo)