Klassentreffen und Basar

Während sich auf der re:publica in Berlin Blogger und Internet-Aktivisten trafen, um die Chancen engagierter Netzpolitik auszuloten, ging es auf der zugleich stattfindenden Internet World in München ums Geschäft.

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Rund 2500 Besucher tummelten sich auf der vierten re:publica. Was als kleine Konferenz in der Kalkscheune begann, ist mittlerweile eine große Veranstaltung geworden, jedoch mit einer Stimmung wie auf einem Klassentreffen. Man sah und beäugte im echten Leben die Menschen, die als Blogger, Kommentargäste, als Follower oder Tweeter digitale Nachbarn sind und diskutierte Themen der Netzpolitik.

So bezeichnete der US-Rechtsprofessor Tim Wu in seinem Vortrag das Prinzip des offenen Internet als fundamental für den Erhalt demokratischer Grundwerte in der Informationsgesellschaft. Regeln und Gesetze hätten zwar eine gewisse Bedeutung, die darunterliegenden gesellschaftlichen Werte seien aber viel wichtiger. Die Provider würden vor allem auf öffentlichen Druck reagieren. Wichtig sei es daher, große Lobby-Organisationen und Werte setzende Vereinigungen wie Kirchen oder Denkfabriken im Blick zu behalten.

Der Politikwissenschaftler Evgeny Morozov teilte diesen Netzoptimismus nicht. Er übte harsche Kritik an Theorien, die von der Digitalisierung selbst schon Demokratisierung erwarten: „Das Verändern der Verhältnisse, die Durchführung einer Revolution ist NICHT mit dem Verbessern eines Eintrags auf Wikipedia vergleichbar. Wer von den kostengünstigen Informationsmitteln schwärmt, muss bedenken, dass sie auch für Gegenrevolutionäre kostengünstig sind.“ Für die meisten autoritären Staaten der Welt sei die Vernetzung und Digitalisierung eine Chance. Die Herrscherkasten können so simulieren, dass sie auf das Volk hören, während sie via Facebook das Volk belauschen.

Der Bundestagger zeigt beispielhaft, wie frei zugängliche Daten mit Mashups Politik transparenter machen können.

Jenseits globaler Perspektiven wurde auch über die aktuelle Ausgestaltung hiesiger Gesetze debattiert. So führen die spärlichen Informationen über das geplante Leistungsschutzrecht zu großer Verunsicherung, wie Matthias Spielkamp vom Urheberrechtsportal iRights.info berichtete. Befürchtungen von Bloggern, dass das Zitatrecht ausgehebelt und auch sie zur Kasse gebeten werden könnten, seien derzeit genauso wenig auszuräumen wie Gedankenspiele über eine neue PC-Pauschalabgabe für die „kommerzielle Nutzung“ digitaler Verlagsinhalte.

Lorenz Matzat von der Lobby-Vereinigung Open Data Network beklagte, dass deutsche Behörden ihre nicht geheimhaltungsbedürftigen Daten bisher sehr zögerlich in maschinenlesbarer Form zur Verfügung stellen. Die Veröffentlichung von Informationen der Verwaltung gemäß dem „Open Data“-Prinzip erlaube eine einfache Verknüpfung mit anderen Daten über „Mashups“, auf denen spezielle Anwendungen etwa im „semantischen Web“ basieren könnten. Was man mit offen zugänglichen Daten machen kann, demonstriert der Bundestagger, der Plenarprotokolle des Bundestags ausliest und Besuchern die Möglichkeit bietet, sie zu kommentieren.

Erstmals beschäftigte sich die re:publica mit dem Nachwuchs. re:learn nannte sich die Vortragsschiene mit Themen wie Bloggen im Unterricht und den Lehrerfahrungen mit einer Laptop- oder iPhone-Klasse. Erstmals hat auch der deutsche Auslandssender Deutsche Welle die Gewinner seines Wettbewerbs „Best of the Blogs“ (BOBs) im Rahmen der re:publica gekürt. Zum besten Weblog hat die Jury Ushahidi.com auserkoren, das zu einer Plattform gehört, die mittels Daten von Mobiltelefonen, E-Mails und Social Networking Karten von Katastrophengebieten anlegt.

SAP hat Richtlinien für den Umgang mit dem Social Web aufgestellt und behandelt das Thema auch auf einer eigenen Website.

Mit der nunmehr erreichten Größe muss die nächste re:publica vor allem organisatorische Konsequenzen ziehen. Manche Vorträge ließen den riesigen Friedrichstadtpalast gähnend leer erscheinen, andere waren in den kleinen Räumen der benachbarten Kalkscheune hoffnungslos überlaufen. Eine Art Crowdrooming, ein flexibles Wahlverfahren muss her, damit die Veranstalter auf diese Art des Ganzkörper-DOS reagieren können.

Während sich auf der re:publica hauptsächlich junge, leger gekleidete Digital Natives trafen, war der Anteil der Anzugträger auf dem parallel laufenden Münchener Internet-Kongress wesentlich größer. 800 Teilnehmer besuchten den Fachkongress, 4250 Besucher kamen an zwei Tagen zur Fachmesse auf das Münchener Messegelände. Um klassische Themen des E-Commerce ging es hier, um Suchmaschinenmarketing, Web-Analytics, Bezahlsysteme und Affiliate Marketing. In einer Sonderschau stellte eine Hand voll Unternehmen ihre iPhone- und iPad-Apps vor. Unter der Plattform loxicon der Hamburger lb-lab zum Beispiel können Nutzer Lieblingsplätze und Events entdecken und mit anderen teilen.

Ein weiteres wichtiges Thema war das Social Web und seine Auswirkungen – auf Unternehmen aller Art. Simyo zum Beispiel setzt schon seit langem auf Präsenz in diversen Web-2.0-Plattformen, wie die Social-Media-Beauftragte des Mobilfunkunternehmens, Nadine Motter, erläuterte. Dort könne man sehr gut neue Produkte präsentieren und schnell und kundennah auf Kritik reagieren. Doch auch wenn das Unternehmen soziale Dienste nicht aktiv ins Marketing einbinden will, sollte es Twitter und Co. nicht gänzlich ignorieren. Es brauche auf jeden Fall verbindliche Richtlinien für Mitarbeiter im Umgang mit dem Social Web, wie Sean MacNiven am Beispiel der Social Media Participation Guidelines von SAP erläuterte.

www.ct.de/1010048 (jo)