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Lieferfahrer-Startup: Genossenschaft statt Risikokapital

Torsten Kleinz
Lieferfahrer-Startup: Genossenschaft statt Risikokapital

Retro-Look statt App-Economy – der erste Anlauf von "Kolyma 2" scheiterte am Verwaltungsaufwand.

(Bild: Screenshot / heise online / Torsten Kleinz)

Nach dem Aus von Deliveroo versuchen sich Lieferfahrer in der Gig-Economy zu behaupten.

Fünf Monate nachdem der Lieferdienst Deliveroo seine Tätigkeit in Deutschland eingestellt hat, versuchen sich einige der Fahrer die Arbeit selbst zu organisieren. Doch wer kein Kapital und keine Strukturen hat, kann das Geschäftsmodell der Multi-Millionen-Plattformen nicht kopieren, wie sich in der Praxis zeigt.

Das Aus der Lieferplattform Deliveroo im August [1] war nach hartem Konkurrenzkampf zwar nicht völlig unerwartet, kam dann aber ganz plötzlich. Die Lieferfahrer hatten kaum Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen. Die formell eigenständigen Fahrer standen plötzlich komplett ohne Auftraggeber da, lange Kündigungsfristen oder große Abfindungen konnten sie nicht erwarten. Doch für manche Fahrer war die Arbeit als Essenskurier nicht nur ein "Gig", nicht nur eine auswechselbare Beschäftigung zum Mini-Gehalt. Schon damals taten sich erste Fahrer zusammen, um ganz auf eigene Rechnung zu arbeiten. Das neue Projekt "Kolyma 2" war deshalb sofort am Start, als Deliveroo die Aufhebungsverträge verschickte.

Die Arbeit auf eigene Faust war deutlich anders. So schätzten viele Lieferfahrer [2] das freie Arbeiten, bei dem sie in der Regel nur per App mit ihrem Auftraggeber in Kontakt kamen. Doch mit dem Ende von Deliveroo verschwand auch dieser Komfort. Die Fahrer mussten sich untereinander neu organisieren. Und statt bequem per App oder Website das Lieferessen zu bestellen, mussten die Kunden sich das Essen aus einer PDF-Speisekarte heraussuchen und an die Fahrer melden.

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Trotz des Komfortverlusts waren viele Kunden und Restaurants bereit, sich mit den Newcomern zu arrangieren. Führte Kolyma 2 anfänglich nur zwei Lokale auf der simpel gehaltenen Website auf, waren es nach einigen Wochen bereits 16 verschiedene Restaurants in den Berliner Bezirken Kreuzberg, Schöneberg und Friedrichshain. Die Bestellung lief einfach per Messenger, die Preise unterschieden sich nicht stark vom großen Vorgänger: 3 Euro pro Lieferung bei 20 Euro Mindestbestellwert. Die Bestellungen wurden unbürokratisch an Messenger-Gruppen in den Stadtteilen weitergeleitet.

Obwohl zu den Liefergebühren noch die Provisionen der Restaurants kamen, reichte dies nicht dafür, das Modell am Leben zu erhalten. "Wir hatten uns bemüht, den Restaurants den Deal anzubieten, den sie von Deliveroo kannten", erklärt Stefano Lombardo im Gespräch mit heise online. "Folge war: Wir hatten sieben Tage die Woche an 12 Stunden am Tag offen. Wir haben zwei Monate durchgearbeitet." Schon bald zeigte sich: Das Konzept war nicht nachhaltig. Zwar hatten die Fahrer bei den Kunden Erfolg, doch der Verwaltungsaufwand war enorm. Im November trat das hoffnungsvolle Startup deshalb in einen "Winterschlaf".

Anders als die multinationalen Plattformen konnten die Fahrer nicht auf Millionen-Investitionen zurückgreifen, um einen Markt zu übernehmen. Anfangsverluste waren für sie keine Option. Ohne Investoren war es ihnen nicht möglich, das Liefergeschäft auf finanziell gesunde Füße zu stellen. Den Branchenriesen Lieferando herauszufordern, der Deliveroo erfolgreich aus dem Markt gedrängt hatte – unvorstellbar.

Dennoch geht Kolyma 2 kommende Woche wieder online – mit einem neuen Konzept. So wollen die drei Mitgründer sich zuerst auf einen etwas lukrativeren Markt konzentrieren, um ein gesundes Fundament zu schaffen. Statt ein oder zwei Mahlzeiten an Privathaushalte zu liefern, wollen sich die Lieferfahrer zunächst die Firmen in der Nachbarschaft als Kunden gewinnen. Die können per Sammelauftrag ihr Essen zur Mittagspause bestellen und bekommen es dann per Kurier geliefert.

Der Mindestbestellwert steigt: Statt 20 Euro sollen es um die 60 Euro sein. Und die Bestellungen sollen mit deutlich mehr Vorlauf eingehen, damit die Fahrer die Arbeit besser einteilen können. Mitgründerin Shelly sagt: "Wir sind derzeit drei Leute mit 15 Fahrrädern und einem Lastenfahrrad." Doch zum Liefergeschäft gehört deutlich mehr. So haben sich die Gründer in den vergangenen Monaten umgesehen, wie sie das Geschäft technisch auf neue Beine stellen können. Der Ansatz, sich einfach per Messenger-Gruppen und Slack zu vernetzen, konnte nicht alle wichtigen Aspekte des Geschäfts abdecken.

Sie schauten sich die Software Coopcycle an, die schon von Kurieren in Frankreich, Belgien, Spanien und auch in einigen deutschen Städten genutzt wird. Problem jedoch: Die Software sieht bisher nur die Zahlung per Kreditkarte vor, doch das Essensgeschäft in Berlin läuft über PayPal und Bargeld. Derzeit sucht das "Pop-Up-Kollektiv" Alternativen, will zunächst wieder mit einem weitgehend manuellen System starten.

Hatten sich die Gründer zunächst Hoffnung darauf gemacht, auch eine Förderung von der Stadt Berlin zu bekommen, haben sie sich nun für das Genossenschaftsmodell entschieden. Sie schlüpften organisatorisch bei der Smart Genossenschaft unter, die inzwischen Selbständigen in neun europäischen Ländern einen organisatorischen Hintergrund zur Verfügung stellt.

"Die Genossenschaft übernimmt die Rolle des Arbeitgebers", sagt Magdalena Ziomek, Geschäftsführerin der Smart Genossenschaft in Berlin. Das heißt: Statt völlig auf eigene Faust zu arbeiten, können sich die Essenskuriere nun über die gesetzlichen Sozialversicherungen absichern. Gleichzeitig tritt die Genossenschaft auch ein, wenn Kunden plötzlich die Zahlung verweigern.

Prinzipiell steht die Genossenschaft für viele Selbstständige offen. "Es gelten dabei einige Grundprinzipien: Wir fördern keine Scheinselbständigkeit und wir sind keine Zeit- und Leiharbeitsfirma", erklärt Ziomek im Gespräch mit heise online. Als Bonus könne die Genossenschaft aber eine Gemeinschaft bieten, bei der sich einzelne Mitglieder gegenseitig Aufträge verschaffen und auf Projektbasis zusammenarbeiten können. Oder sich bei der Mittagspause sehen. "In unseren Büros nutzen wir bereits den Lieferdienst von Kolyma 2", sagt Ziomek. (anw [4])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4631144

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Essenszusteller-Deliveroo-stellt-Deutschland-Geschaeft-ein-4494871.html
[2] https://www.heise.de/hintergrund/Gig-Economy-bei-Foodora-und-Deliveroo-Folgen-der-Arbeitsorganisation-mit-Apps-4285433.html
[3] https://jobs.heise.de?wt_mc=intern.newsticker.dossier.jobs
[4] mailto:anw@heise.de