Metamaterial: Bosonische Kitaev-Kette verstärkt Schall exponentiell

Elektronen kann man per Magnetfeld manipulieren, Schallwellen aber nicht, weil
 sie elektromagnetisch neutral sind. Doch Quantenhokuspokus hilft.

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(Bild: KI Midjourney)

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Ein vom Amsterdamer Institut Atoom- en Molecuulfysica (AMOLF) geleitetes Team hat ein Metamaterial erfunden, mit dem sich die in festen Körpern auftretenden mechanischen Schwingungen (Schallwellen) lenken lassen. Auch verstärkt das synthetische Material solche Schallwellen extrem, was die Entwicklung der Sensortechnik und Informationsverarbeitung beeinflussen dürfte.

Die Geschichte der Erfindung und Entdeckung der zugrundeliegenden Phänomene reicht einige Jahre zurück. Das von Ewold Verhagen am AMOLF geleitete Team hat sich Manipulationstechniken von Elektronen auf Grundlage von Magnetfeldern als Vorbild genommen und nach ähnlichen Methoden für Schallwellen gesucht. Doch bei Elektronen hat man leichtes Spiel: Sie sind negativ geladen und wechselwirken mit Magnetfeldern, sodass man damit etwa ihre Richtung beeinflussen kann, etwa in Kathodenstrahlröhren. Auf deren elektromagnetischen Eigenschaften gründen diverse weitere Phänomene wie topologische Isolatoren, die Strom am Rand perfekt leiten, aber im Inneren nicht. Auch können sich Elektronen im Magnetfeld nicht auf demselben Weg in die Gegenrichtung bewegen, aus der sie kommen. Für viele Anwendungen wäre es aber sehr nützlich, wenn man Vibrationen und Schallwellen ähnlich wie Elektronenstrahlen mittels Magnetfeldern manipulieren könnte. Lange Zeit klappte das nicht, denn Elektronen sind geladene Teilchen, während Schallwellen elektrisch und magnetisch neutral sind.

Verhagens Team öffnete das Tor, als es begann, die Schallrichtung mit Laserlicht zu kontrollieren. Dabei erzeugt der Strahlungsdruck des Lasers in einem Netzwerk aus vibrierenden Silizium-Nanosaiten gerichtete Schallwellen. Das haben Javier del Pino, Jesse J. Slim und Ewold Verhagen bereits 2022 herausgefunden und erhofften sich, auf dieser Basis neue synthetische Materialien mit Eigenschaften zu entdecken, die man bis dahin nicht kannte.

Die Schallrichtung lässt sich mit Laserlicht kontrollieren. Dabei erzeugt der Strahlungsdruck des Lasers in einem Netzwerk aus vibrierenden Silizium-Nanosaiten gerichtete Schallwellen.

(Bild: AMOLF)

Das gelang in Ableitung der Kitaev-Kette. Diese ist ein theoretisches Modell der Quantenphysik, das bestimmte Zustände von Elementarteilchen (Fermionen wie Elektronen, halbzahliger Spin) in einem supraleitenden Material beschreibt (etwa Majorana-Nullmoden für bisher nur hypothetische fehlertolerante Quantencomputer). Alexei Kitaev entwickelte das Modell während seiner Beschäftigung bei Microsoft um die Jahrtausendwende. Das Modell bezieht sich auf elektrisch geladene Teilchen, aber Verhagen und sein Team gingen davon aus, dass das mathematische Konzept auch mit einem synthetischen Material umgesetzt werden könnte, in welchem Licht oder Schall schwingen. Davon versprachen sie sich ein gänzlich neues Materialverhalten.

Da Licht und Schall aus Photonen respektive Phononen bestehen, die zu den Bosonen gehören (Elementarteilchen/Quasiteilchen mit ganzzahligem Spin), bildet ein solches Material keine fermionische, sondern eine bosonische Kitaev-Kette. Diese besteht aus gekoppelten Resonatoren. Dabei entsprechen die Resonatoren den "Atomen" des Materials und deren kollektives Verhalten hängt von der Art ihrer Kopplung ab.

Genau besehen handelt es sich um nanomechanische Resonatoren, winzige vibrierende Silizium-Saiten mit Sägezahnkanten. Die Herstellung beschreiben die Autoren im Artikel von 2022 (Non-Hermitian chiral phononics through optomechanically induced squeezing, Nature). Die Kopplung der Saiten erfolgt aber nicht mechanisch, etwa mittels Federn, sondern optisch über den Strahlungsdruck des Lasers. Jesse Slim, Erstautor der 2024 nachfolgenden Studie sagt: "Durch vorsichtiges Verändern der Laserintensität konnten wir fünf Resonatoren miteinander verbinden und so die bosonische Kitaev-Kette erzeugen."

"Die optische Kopplung ähnelt mathematisch den supraleitenden Gliedern einer fermionischen Kitaev-Kette", sagt Verhagen. „Ungeladene Bosonen sind jedoch nicht supraleitend; stattdessen verstärkt die optische Kopplung die nanomechanischen Schwingungen. Infolgedessen werden die Schwingungen von einem Ende zum anderen exponentiell verstärkt. Interessanterweise ist die Übertragung der Schwingungen in die entgegengesetzte Richtung blockiert.“

Verhagen ergänzt: "Und was noch faszinierender ist: Wird die Welle ein wenig verzögert – um ein Viertel einer Periode – kehrt sich das Verhalten komplett um: Das Signal wird nach hinten verstärkt und nach vorn blockiert. Die bosonische Kitaev-Kette wirkt somit wie ein außergewöhnlicher Richtungsverstärker, der vielversprechende Anwendungen für die Signalmanipulation, insbesondere in der Quantentechnologie, ermöglichen könnte." Die Studie erschien im März im Fachblatt Nature unter dem Titel "Optomechanical realization of the bosonic Kitaev chain".

Wissenschaftliche Arbeiten zur Kitaev-Kette:

(dz)