Missbrauchsbeauftragter: Kampf gegen Kindesmissbrauch im Netz vor dem Kollaps

Strafverfolger kommen der Masse an Fällen von Kindesmissbrauch vor allem im Internet nicht mehr nach, beklagt Johannes-Wilhelm Rörig.

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(Bild: dpa / P. Pleul)

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"Wir müssen verhindern, dass das System kollabiert", sagt Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Er meint das System der Strafverfolgung gegen den Kindesmissbrauch im Netz. "Vor allem brauchen wir eine massive Personalaufstockung bei Polizei und Justiz", fordert Rörig.

"Ermittlungen dürfen nicht daran scheitern, dass Durchsuchungsbeschlüsse nicht vollstreckt und Datenträger nicht ausgewertet werden oder tausende Akten bundesweit auf Halde liegen, weil es keine Kapazitäten für ihre Bearbeitung gibt. Hier ist ein Kipppunkt erreicht", warnt Rörig. Die Gefahrenabwehr müsse dorthin, wo die Kinder und Jugendlichen seien. Dies betreffe immer mehr auch die Sozialen Netzwerke und Online-Spiele.

Rörig stellt seine Forderungen angesichts der nun vom Bundeskriminalamt (BKA) vorgestellten Zahlen zur Gewalt gegen Kinder auf. Laut diesen sind die Fälle von Kinderpornografie im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um 53 Prozent auf 18.761 gestiegen. Zudem habe sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen insbesondere in sozialen Medien weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten seit 2018 auf 7643 mehr als verfünffacht.

Foren im Darknet würden von Tätern zunehmend professionell organisiert, kleinere Tätergemeinschaften verstecken sich hinter verschlüsselter Kommunikation, erläutert das BKA. Vermehrte Hinweise auf Kinder- und Jugendpornografie kämen wohl auch daher, weil das National Center for Missing & Exploited Children vermehrt Fälle aus Deutschland melde. Außerdem sei es der Polizei in den großen Missbrauchsverfahren in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster gelungen, zahlreiche weitere Tatverdächtige im In- und Ausland zu identifizieren. Tausende Hinweise auf Missbrauchsdarstellungen hätten aber nicht zur Ermittlung der Täter geführt, weil die vom Provider mitgelieferten IP-Adressen mangels Vorratsdatenspeicherung bereits gelöscht waren, erklärt das BKA.

Der nächste Bundestag müsse eine Enquête-Kommission einsetzen, fordert Rörig. Dort sollten Experten und Experinnen aus Datenschutz, Kinderschutz, Cyberkriminologie und Strafverfolgung zusammen mit den großen Online-Unternehmen und Gamingplattformen eine Grundsatzstrategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten.

Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik sind voriges Jahr in Deutschland 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen. 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 134 Fällen wurde die Tötung versucht. Mit 4918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um 10 Prozent gegenüber 2019 registriert. Der Kindesmissbrauch ist um 6,8 Prozent auf über 14.500 Fälle gestiegen.

Das Dunkelfeld, der Anteil an Straftaten, von denen die Polizei nichts erfährt, ist um ein Vielfaches größer. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland pro Schulklasse bis zu zwei Schüler oder Schülerinnen sexueller Gewalt ausgesetzt sind oder waren.

(anw)