Russische Protestbewegung wählt und streitet

Update: Russischer Oppositioneller in Kiew von Sicherheitsbeamten entführt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In vielen Städten Russlands hatten am Sonnabend und Sonntag selbstorganisierte Wahllokale der russischen Protestbewegung geöffnet ( Fotos von Wahllokalen in St. Petersburg). Im ganzen Land hatten sich 167.000 Wähler registriert, um on- und offline an den Wahlen zum Koordinationsrat (KC) teilzunehmen. Bis Sonntag hatten 61.000 Wähler ihre Stimme abgegeben.

Eigentlich sollten die Wahllokale am Sonntagabend schließen. Aber wegen einer achtstündigen DDoS-Attacke am Sonntagabend kann nun noch bis Montagabend gewählt werden. 209 Kandidaten bewerben sich für die 45 Plätze im KC. Gewählt werden die Kandidaten über vier Listen, eine allgemeine Liste sowie drei Kandidaten-Listen mit Vertretern der drei politischen Richtungen, Linke, Liberale und Nationalisten.

Mit den Wahlen versuchen die bekannten Vertreter der Protestbewegung wie der Blogger Aleksej Nawalni, der Koordinator der Linken Front, Sergej Udalzow, und Ex-Vizepremier Boris Nemzow der Protestbewegung feste Strukturen zu geben und den Abwärtstrend der Bewegung aufzuhalten. Denn seit Wladimir Putin im März wieder zum Präsidenten gewählt wurde, gehen die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen der Protestbewegung zurück.

Täuschungsversuch eines Finanz-Spekulanten

Für Verwirrung sorgte der Versuch des bekannten Finanz-Spekulanten Sergej Mawrodi, der mit 5.000 von ihm mobilisierten Wählern auf die Zusammensetzung des KC Einfluss zu nehmen versuchte. Mawrodi hatte in den 1990er Jahren die Finanz-Pyramide MMM aufgebaut und musste wegen Betrug und Diebstahl bereits eine Gefängnisstrafe absitzen. Die Wahlkommission fand Mittel, die 5.000 von dem Finanz-Jongleur mobilisierten Wähler ausfindig zu machen und aus der Wählerliste zu streichen.

Neben zahlreichen bekannten Oppositionspolitikern aus Moskau sind unter den 209 Kandidaten auch zahlreiche Vertreter der Regionen, die aber kaum bekannt sind, weil die Medien nicht über sie berichten. Um diesen Kandidaten eine Chance zu geben, zogen drei bekannte Moskauer ihre Kandidatur zurück. Auf ihre Kandidatur verzichteten die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, die Menschenrechtlerin Irina Jasina und der linke Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow (Gerechtes Russland). Der Parlamentarier begründete seinen Rückzug von der Kandidaten-Liste mit grundsätzlicher Kritik. Das Wahlsystem für den KC bevorzuge "die Moskauer" und die durch die Medien bekannten Oppositionspolitiker. Den Vorschlag, Vertretern der Regionen die Hälfte der Sitze im KC zu sichern, sei von den Organisatoren der Wahlen leider nicht angenommen worden.

Massive Kritik an den Wahlen kam aus dem anarchistischen Spektrum. In einer Erklärung von "Anarchisten Moskaus" wird kritisiert, die 209 Kandidaten könnten wohl für ihre Organisationen sprechen, "aber nicht für alle Protestierenden". Im Übrigen brauche man, um die nächsten Kundgebungen zu organisieren, kein Gremium von 45 Personen. Und bevor der KC mit Vertretern der Macht verhandelt, müsse erst mal festgelegt werden, mit welchen Forderungen man sich eigentlich an die Macht wenden wolle. Auch sei bisher nicht festgelegt, welche Befugnisse der KC eigentlich hat.

Doch eben diese Debatte schiebt die Protestbewegung seit ihrem Entstehen im Dezember 2011 vor sich her. Und es gibt bisher keinerlei Anzeichen, dass sich die drei politischen Flügel – Linke, Liberale und "Nationalisten" (die eigentlich Faschisten sind) - jemals auf ein politisches Programm einigen werden. Zu tief sind die ideologischen Gräben.

Update: Entführung in Kiew

Die Wahlen zum KC wurden am Samstag von der Festnahme eines bekannten russischen Links-Aktivisten überschattet. Nach Aussage des linken Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow wurde sein Mitarbeiter Leonid Raswosschajew in Kiew von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes festgenommen und in einem Privatflugzeug nach Moskau gebracht. Die Entführung erfolgte am Freitag unmittelbar vor dem Kiewer Büro der Rechtshilfeorganisation HIAS, wo Leonid sich über seine Rechte als politischer Flüchtling beraten ließ.

Nach einem Bericht des Kommersant wurde Raswosschajew von einer "Gruppe kräftiger Männer in Zivil" in ein Auto gezerrt. Bei den Männern soll es sich nach Aussage ukrainischer Menschenrechtler um Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes SBU gehandelt haben. Die Anwältin des Entführten, Violeta Wolkowa, veröffentlichte ein Video, auf dem zu sehen ist wie Raswosschajew von russischen Polizisten zu einem Polizei-Bus geführt wird, wobei er Journalisten zuruft, er sei zwei Tage gefoltert und mit dem Tod bedroht worden.

Der Sprecher der russischen Staatsanwaltschaft, Wladimir Markin, stellte die Vorgänge um Raswosschajew völlig anders dar. Danach habe sich Raswosschajew am Sonntag aus eigener Initiative dem russischen Ermittlungskomitee gestellt und eine zehnseitige handschriftliche Erklärung abgegeben, in der er sich zu angeblichen Umsturzplänen bekannte. .

Grund für die Festnahme ist die angebliche Teilnahme von Leonid Raswosschajew und dem Koordinator der Linken Front, Sergej Udalzow, an einem Geheimtreffen mit einem Vertreter der georgischen Regierung im weißrussischen Minsk. Auf diesem Treffen soll den russischen Links-Politikern Geld aus Georgien für einen Umsturz in Russland angeboten worden sein. Der Fernsehkanals NTW hatte in einem Enthüllungsfilm ein angeblich geheim aufgenommenes Video über das Geheimtreffen präsentiert, dessen Echtheit von namhaften russischen Linken aber vehement angezweifelt.

Die russische Staatsanwaltschaft verhängte gegen Udalzow ein Ausreiseverbot und nahm Ermittlungen wegen Vorbereitungen zu einem Umsturzversuch auf. Der Koordinator der Linken Front bestreitet Verhandlungen mit Vertretern anderer Staaten. Auch habe er von Ausländern niemals Geld genommen.

Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen die angeblichen Umstürzler wirft unter anderem die Frage auf, warum gegen Udalzow, Raswosschajew und zwei andere Links-Aktivisten erst seit der Ausstrahlung des Enthüllungsfilms Anfang Oktober ermittelt wird, wo doch das angebliche Geheim-Treffen in Minsk schon im Juni stattfand.