Schillernde Seifenblase "Bildungs"chip

Außer Kontrolle

Erfolgreich hat es die Bundesarbeitsministerin geschafft, die Diskussion um neue ALG II-Regelsätze zu einer Diskussion pro oder kontra Chipkarte mutieren zu lassen. Die schillernde Seifenblasenablenkung dürfte aber bald platzen.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Thema ALG II-Regelsätze ist viel Zeit vergangen. Zeit, in der das Bundesarbeitsministerium fleißig Daten zusammengetragen hat, während es jedoch nach Außen hin keinerlei Informationen darüber herausgab, welche Daten angefordert worden sind. Selbst die Anfragen an das Statistische Bundesamt blieben geheim und nährten damit die Skepsis derjenigen, die unter der vom BVerfG geforderten Transparenz etwas anderes sahen als Berechnungen hinter verschlossenen Türen. Doch hier wurde schlichtweg auf Zeit gespielt. Ab Januar 2011 müssen die neuen Regelsätze nicht nur von den entsprechenden Gremium verabschiedet, sondern auch in die Computerprogramme zur Auszahlung von ALG II integriert sein. Das BVerfG hat hier vorgesorgt und beschlossen, dass selbst dann, wenn keine Einigung über die Regelsätze zustandekommt, die neuen Regelsätze gelten.

Kinder, Kinder

Dem Bundesarbeitsministerium ist es allerdings erfolgreich gelungen, die Debatte darüber, was zum Existenzminimum gehören und wie eine Berechnung erfolgen soll, in eine Debatte über die Kinder umzulenken. Von Anfang an konzentrierte sich Ursula von der Leyen auf ihr Steckenpferd: die Kinder. Dabei hatte das BVerfG die intransparente Berechnung aller Regelsätze kritisiert, nicht nur die der Kinder. Bei den Kinderregelsätzen gab es weitere Kritiken, z. B. hinsichtlich der fehlenden Bildungskosten. Ferner sah das BVerfG es nicht als adäquat an, für Kinder einfach einen Betrag festzusetzen, der nicht ihren spezifischen Bedarf widerspiegelt, sondern lediglich ein Teilbetrag dessen, was ein Erwachsener benötigt.

Durch die Diskussion um die sogenannte "Bildungschipkarte" hat es Frau von der Leyen in gewohnter Weise verstanden, von ihr angedachte Projekte nicht zuletzt durch mediale Begleitung so weit voranzutreiben, dass sie damit nicht nur kritische Kolleginnen im Kabinett, sondern auch die Gremien, die ihrer Lösung zustimmen müssen, vor sich her treibt. Eine Praxis, die sich bereits bei den Netzsperren als erfolgreich erwiesen hat. Auch hier erwies sich Frau von der Leyen als "Macherin", als jemand, der seine Idee so lange in die Öffentlichkeit trägt und entsprechend verkauft, bis es immer schwieriger wird, sich ohne Imageverlust dieser Idee zu entziehen. Einer Idee, die stets als gute Idee für die Kinder gepriesen wird, egal ob nun Sachleistungen für Kinder oder Netzsperren zum Schutz der Kinder. Die "Hintergrundinformationen" werden nach und nach nicht mehr hinterfragt, sondern in Stille-Post-Manier einfach übernommen und mutieren nach und nach zu harten Fakten.

Time is cash, time is money

Die Zeit läuft der Bundesarbeitsministerien davon und insofern ist davon auszugehen, dass die neuen Regelsätze zunächst einmal, egal ob mit oder ohne Kritik, verabschiedet werden. Zu vermuten ist, dass zwar ein paar Euro mehr bei der Berechnung herauskommen, dies aber z. B. durch die Neuregelungen zu den Kosten der Unterkunft auf Seiten der Kommunen eingespart wird. Einzelposten werden steigen bzw. neu in der Berechnung auftauchen, wieder andere werden wahrscheinlich gestrichen oder gekürzt werden.

Doch das größte Hütchenspielertaktieren ist bei den Kinderregelsätzen zu erwarten. So wurde schon von Anfang an munter zwischen Ernährung (Schulessen), Freizeit (Sportverein, Musikschule) und Bildung (Nachhilfe) nicht mehr unterschieden, sondern alle Posten wurden zu einem "Für die Kinder"-Eintopf, den es gegen Vorlage einer Chipkarte geben soll. Dabei wurden in bewährter Manier die Vorzüge einer bereits in Einzelfällen funktionierenden Lösung, die völlig andere Themenbereiche abdeckt, als die von Frau von der Leyen zu "beackernden", zu Vorbildern. Vielgepriesen wurde die Stuttgarter Chipkartenlösung, die aber letztendlich nichts mit Bildung, sondern mit Freizeitmöglichkeiten für alle (!) Kinder zu tun hat, die zudem in jahrelanger mühevoller Arbeit und mit viel Unterstützung durch lokale Unternehmen sowie durch hohe Investitionen der Stadt selbst möglich wurde.

Wie eine solche Lösung bundesweit funktionieren soll, bleibt weiterhin offen, ebenso woher die lokale Unterstützung gerade in kleinen Orten und Städten kommen soll bzw. was passieren soll, wenn derartige Möglichkeiten nicht umgesetzt werden können, z. B. aufgrund Geldmangel der Kommunen. Es ist insofern auch unlogisch, die Kosten, die in Stuttgart pro Kind für die Chipkarte anfallen, einfach auf die Gesamtzahl der Kinder in Deutschland hochzurechnen, wie es die Ministerin in einem Interview getan hat.

Pflichtenheft? Welches Pflichtenheft?

Sieht man sich einmal den Zeitplan der Frau von der Leyen an, so wird sich jeder, der sich mit IT-Großprojekten befasst, wundern, wie ein solches Projekt innerhalb von 6-8 Monaten gestemmt werden soll. Denn bereits Mitte 2011 soll das Chipkartenmodell in Testregionen genutzt werden können. Wie sich innerhalb dieser kurzen Zeit ein datenschutzgerechtes Konzept realisieren lassen soll, zumal zunächst einmal eine öffentliche Ausschreibung, die Bewertung der einzelnen Angebote, die Auftragsverbote... zu erledigen wären. Es bleibt zu hoffen, dass die Naivität der Bundesarbeitsministerin nicht solche Ausmaße angenommen hat, dass sie der Meinung ist, eine Ausschreibung wäre nicht notwendig, oder wenn sie gar auf die Idee kommt, selbstlose Angebote wie seitens der Kreditkartenfirma Visa anzunehmen.

Auch müssten die Gelder für ein solches Projekt auf Bundesseite zur Verfügung stehen. Woher diese kommen sollen, bleibt weiter unklar, stattdessen wird davon gesprochen, dass sich lokale Bündnisse (diese müssten erst entstehen) beteiligen sollen. Hier wird der Eindruck erweckt, es gehe um die Gesamtkosten, dabei geht es darum, die auf den Chipkarten hinterlegten Gelder zu erhöhen bzw. die Möglichkeiten zu erweitern. Denn bisher spricht man von hinterlegten Geldern in Höhe von ca. 20-30 Euro pro Kind monatlich.

Eine Seifenblase platzt

Die Idee der Chipkartenregelung, die Frau von der Leyen propagiert, ist technisch und politisch nicht ausgereift, sie diente aber als perfektes Ablenkungsmanöver. Dass sie auch seitens des Ministeriums bisher eher als "roter Hering" dargestellt wurde, denn als ernstgemeinte Idee, zeigt sich daran, dass es noch keinerlei weitere Überlegungen jenseits des "eine Chipkarte wäre toll" gibt. Der Datenschutzaspekt, den die Bundesfamilienministerin aufwarf, wurde beiseite gefegt, weitere Informationen gibt es nicht.

Das lässt darauf schließen, dass die Chipkarte letztendlich eine bunte Seifenblase ist, die einerseits ablenken und andererseits Klagen über fehlende Gelder für Kinder abfedern soll. Es lässt sich dann sagen: "Ja, aber durch die Chipkarten kommt das doch alles noch." Was ein ALG II-Empfänger, der nicht einmal die Fahrt zum Gymnasium bezahlt bekommt, von einer 20-Euro-Finanzspritze für den Sportverein haben soll, bleibt weiter offen.

Die derzeit gerne medial als Kanzlerinnennachfolge gehandelte Ministerin hat es einmal öfter geschafft, nicht nur intransparent vorzugehen, sondern auch eine wenig bis gar nicht überdachte Idee so weit voranzutreiben, dass die Kritik nach und nach im "Die ALG IIler können so das Geld für die Kinder wenigstens nicht versaufen"-Chor untergeht. Glückwunsch!