Schnipseljagd im Stasi-Müll

Das Berliner Fraunhofer-Institut und die Lufthansa Systems Group haben ihr Konzept zur Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten vorgelegt. Die Entscheidung liegt jetzt beim Deutschen Bundestag.

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Von
  • Richard Sietmann

Das Fraunhofer-Institut für Produktionanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) und die Lufthansa Systems Group LHS veranschlagen für die automatische Rekonstruktion der beim Zusammenbruch der DDR Ende 1989, Anfang 1990 sichergestellten 16.250 Säcke voll zerrissener Stasi-Akten einen Zeitraum von fünf Jahren. Derzeit sind in Zirndorf bei Nürnberg noch 15 Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU) mit dem Zusammenfügen der Puzzle-Stücke beschäftigt; 250 Säcke haben sie seit 1995 abgearbeitet und mehr als 500.000 Seiten von Hand erschlossen. Bei diesem Tempo müsste sich das letzte betroffene Opfer der Bespitzelung durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR noch 500 Jahre mit der Akteneinsicht gedulden.

Das Berliner Fraunhofer-Institut und die LHS hatten deshalb in einem Ausschreibungsverfahren den Zuschlag für eine Machbarkeitsstudie erhalten, inwieweit sich die manuelle Rekonstruktion der DDR-Hinterlassenschaft automatisieren lässt. Nach dem heute vorgestellten Konzept der beiden Partner will die Gesellschaft für beleglose Dokumentenbearbeitung (GbD), eine LHS-Tochter, den Scanprozess übernehmen. Um die einzelnen Schnipsel für die elektronische Erfassung zu fixieren, sollen sie zwischen Folien eingeschweißt, mit Barcodes katalogisiert und dann von einem kommerziell verfügbaren Hochleistungsscanner mit einer Kapazität von 10.000 Seiten pro Stunde bei einer Auflösung von 200 dpi eingelesen werden. Der Prozess wird von den Vor- und Rückseiten der schätzungsweise 600 Millionen Schnipsel rund 1,2 Milliarden Farbbilder liefern, die dann auf 38.000 DVDs gespeichert werden sollen.

Der Umfang der daraus zu rekonstruierenden Akten dürfte rund 100 Terabyte betragen. Das IPK hat dazu im Rahmen der Machbarkeitsstudie den Prototyp einer Erkennungssoftware entwickelt, die zur Zeit auf zwei Standard-PCs implementiert ist. Im ersten Schritt sortiert sie unter Auswertung von Merkmalen wie Farbe, Textur, Linierung und Schriftbild ähnliche Schnipsel vor und schränkt so den Suchraum ein. Im zweiten Schritt beginnt dann das eigentliche Puzzle, wobei die Software neben den Flächen und Konturinformationen auch den Inhalt der Schnipsel berücksichtigt. Im Echtbetrieb müssten rund hundert PCs werkeln, um die Arbeit in dem genannten Zeitraum von fünf Jahren abzuschließen. "Wir schätzen, dass wir etwa 80 Prozent der rund 600 Millionen Stasi-Schnipsel auf diese Weise automatisch zusammensetzen können", erklärt der für das Projekt zuständige IPK-Abteilungsleiter Bertram Nickolay. "Der Rest muss am Bildschirm interaktiv rekonstruiert werden."

Zu den Kosten für die Aufarbeitung der DDR-Hinterlassenschaft machten heute weder die Beteiligten noch der Vertreter des BStU konkrete Angaben. Die in der Öffentlichkeit bisher kursierende Summe von insgesamt 60 Millionen Euro könne er nicht bestätigen, erklärte der Pressesprecher der BStU. Da ein Teil der Mittel aus dem regulären Haushalt der Behörde stammen werde, sei der zusätzliche Bedarf eher im einstelligen Millionenbereich pro Jahr anzusiedeln.

Das IPK und die LHS hoffen nun auf die Auftragserteilung. Die Machbarkeitsstudie liegt jetzt dem Bundestags-Innenausschuss vor, der dazu eine Beschlussempfehlung abgeben wird. Ob das System zum Einsatz kommt und ob die Hinterlassenschaft den Mittelaufwand wirklich wert ist -- darüber muss dann der Deutsche Bundestag entscheiden. (Richard Sietmann) / (anw)