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Smartphones und Strafverfolgung: EU-Polizeiallianz skizziert den mobilen Big Brother

Stefan Krempl
Smartphones und Strafverfolgung: EU-Polizeiallianz skizziert den mobilen Big Brother

Mit der flächendeckenden Verbreitung von Smartphones und dem Einzug der Mobiltechnik in der Strafverfolgung sieht eine polizeiliche EU-Arbeitsgruppe einen Wendepunkt erreicht, der das Spiel zugunsten der Ermittler neu aufstelle.

Eine schöne neue Welt der Kriminalitätsbekämpfung sieht das European Network of Law Enforcement Technology Services (ENLETS) mit der kontinuierlichen Smartphone-Revolution auf die Strafverfolger zukommen. "Wir haben einen Wendepunkt erreicht, mit dem die Polizei mobile Lösungen für die meisten oder alle ihre operationellen Beamten und Arbeitsprozesse einsetzen kann", heißt es in einem Geheimpapier [1] des von der EU-Kommission finanzierten Netzwerks vom Juni, das die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch jetzt veröffentlicht hat [2]. Die Mobiltechnik sei inzwischen eine "umwälzende Reformkraft", die das Spiel zugunsten der Polizei entscheiden könne.

Das 20-seitige Papier aus der Feder des niederländischen ENLETS-Koordinatoren Patrick Padding und seines Kollegen Frank Smith wirkt ähnlich euphorisch geschrieben wie der Geschäftsplan eines IT-Startups. Die Vordenker aus den Reihen der Polizei [3] wollen damit allen Strafverfolgungsbehörden in der EU einen "Weckruf" erteilen, damit diese die Vorteile der Mobiltechnik erkennen und nutzen. Andernfalls drohe, dass sie in ihrem Arbeitsbereich komplett zurückfielen.

Den "echten Nutzen mobiler Strafverfolgung" sehen die Autoren in der "Standardisierung und Optimierung vorbildhafter Praktiken" direkt auf der operationalen Ebene, wo dies bisher am schwierigsten zu erreichen gewesen sei. Dabei könnten in einem Zug auch Probleme mit der Datenqualität bekämpft werden durch ein "sorgfältiges Design" der Schnittstellen für die Interaktion der Nutzer mit den Geräten. Einige Länder konzentrierten sich daher darauf, Ausweiskontrollen mit Mobilgeräten als einen ersten Schritt in diesem Prozess verbindlich zu machen.

Laut dem Geheimpapier sind die Niederlande führend im Sektor "Mobile Policing" mit mindestens 50.000 Smartphones und Tablets im Feld bei Ordnungshütern, es folgen Schweden, Norwegen und Dänemark. Zum G20-Gipfel in Hamburg [4] sollten 1400 Mobilgeräte erstmals mit Einsatzfahrzeugen der Polizei vernetzt werden, heißt es weiter, während Polen und Finnland mit mobilen Grenzkontrollen in Zügen experimentierten.

Letztlich könne das gesamte Organisationsprinzip der Polizeiarbeit neu ausgerichtet werden, schreiben die Verfasser. Das alte "Pull"-Konzept mit der gezielten Abfrage von Datenbanken und dem Warten auf Informationen aus einem System im Hintergrund verschwinde.

"Smartphones haben Sensoren, die wissen, wer du bist, was deine Fähigkeiten, deine Präferenzen, deine Aufgaben sind", heißt es in dem Geheimpapier. Ob ein Ermittler gerade laufe, renne oder fahre, berücksichtigen die Systeme. Sie wüssten jederzeit, wo er sich aufhalte und was relevant für ihn sei. Zudem könnten sie "Gesichter, Stimmen und Fingerabdrücke erkennen", Daten kombinieren und in Kontext setzen.

Die Arbeitsgruppe des EU-Rates skizziert so eine baldige "symbiotische Beziehung zwischen dem Nutzer", einem Polizisten, und seiner tragbaren Geräte mit automatischen Sensoren und Systemen, die ständig aus diversen Quellen selbstständig Informationen abrufen und dem Ermittler im Bedarfsfall an die Hand geben. Die Lösungen könnten dabei auf die zunehmende Kommunikationswelt in Form von sozialer Netzwerke, Multimedia, dem Internet der Dinge, Messenger oder technischen Verfolgungswerkzeugen zurückgreifen.

Noch ist es in der Praxis aber nicht weit her mit dem mobilen Big Brother, wird in dem Papier eingeräumt. Bei der grenzüberschreitenden Polizeiübung "Smurfer" etwa habe sich "schmerzhaft" herausgestellt, dass die gegenwärtig verfügbaren Systeme ihre Grenzen hätten. Viele Einsatzkräfte im Bereich Grenzüberwachung und "verdeckter Operationen" hätten noch nicht die technischen Werkzeuge, um sich effizient untereinander auszutauschen und mit Fotos, Videos, Dokumenten oder Bewegungsdaten von Menschen, Gütern oder Fahrzeugen auf dem Laufenden zu halten.

ENLETS unterstützt daher den Plan der Kommission [5], Datenbanken im Bereich innere Sicherheit weiter etwa über gemeinsame Suchfunktionen zu vernetzen. Nötig sei ein klares Mandat für ENLETS, schnellstmöglich beispielhafte mobile Anwendungsmöglichkeiten entwickeln zu dürfen. Mit der IT-Agentur EU-Lisa müssten dringend Optionen ausgelotet werden, eine europäische zentralisierte Infrastruktur für den operationalen Austausch und "sicheres Messaging" rund um die Uhr zu etablieren. Um die Privatsphäre der Bürger machen sich die Autoren keinerlei Sorgen; der Begriff Datenschutz taucht lediglich einmal auf, als es darum geht, die Mobiltechnik von vornherein vor Hackerangriffen abzusichern. (anw [6])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3771317

Links in diesem Artikel:
[1] http://statewatch.org/news/2017/jun/eu-council-enlets-mobile-solutions-police-10127-17.pdf
[2] http://statewatch.org/news/2017/jul/eu-mobile-policing.htm
[3] https://www.heise.de/news/EU-Polizeinetzwerk-will-Autos-ferngesteuert-stoppen-2098389.html
[4] https://www.heise.de/news/G20-Krawalle-Linke-und-Polizei-beklagen-Online-Hetzjagd-wegen-privater-Internet-Fahndung-3768185.html
[5] https://www.heise.de/news/Biometrie-Superdatenbank-EU-Kommission-will-alle-Security-Daten-vernetzen-3719086.html
[6] mailto:anw@heise.de