Software-Defined Networks – das Gegenmodell zum Internet

"Next Generation Networks" sind Schnee von gestern – die TK-Branche fährt jetzt auf "Software-Defined Networking" ab.

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Von
  • Richard Sietmann
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Die Telekommunikationsnetze der Zukunft sollen "beweglich" sein. Mit Hilfe leistungsfähiger Echtzeit- und Offline-Analysen der Verkehrsdaten soll sich die Kommunikationsinfrastruktur "elastisch und selbst-adaptierend" an stark fluktuierende Verkehrslasten und -anforderungen anpassen können.

Das Netzwerkmanagement operiere heute "ziemlich grob mit Schwellwert-basierten Vorgaben und Regeln", erläuterte der Forschungschef der Alcatel-Lucent Bell Labs, Markus Hofmann, in seiner Keynote auf dem World Telecommunications Congress (WTC 2014) in Berlin. "Morgen werden Echtzeit-Analysen die aus den Infrastruktur- und Nutzerdaten gewonnenen Erkenntnisse ausnutzen" und übermorgen könnten prädiktive Analysen sogar Probleme wie Störungen und Staus vorhersagen.

Den Schlüssel zur angestrebten "Service Agility" bildet das Software-Defined Networking (SDN), ein Konzept, das Entwickler und TK-Netz-Architekten derzeit so umtreibt wie früher der Begriff des Intelligenten Netzes, als Kommunikationsnetze noch im Wesentlichen Telefonnetze waren. Doch im Grunde schließt sich das neue Paradigma nahtlos an das alte an.

Propagiert werden offene Programmierschnittstellen für Netzkomponenten wie Switches, Router, Firewalls und Gateways, so dass von einem zentralen Rechner aus mit geeigneten Algorithmen die verteilten Komponenten zur Laufzeit rekonfiguriert werden können. Die einzelnen Netzelemente sollen als Packet Forwarding Engines unter Anwendung gewisser Regeln nur noch der Weiterleitung von Paketen vom Eingangs- auf den Ausgangsport dienen. Die Implementierung dieser Regeln und Vorgaben, das heißt die Steuerung der Weiterleitungsmechanismen, wird an den Zentralrechner ausgelagert. Ziel ist es, zu einer einheitlich programmierbaren Netzplattform zu gelangen, indem Steuerungs- und Transportebene entkoppelt werden.

SDN sind quasi das Gegenmodell zum ursprünglichen Internet-Konzept, wonach die Router "zustandslos" – ohne Gedächtnis – operieren sollen: Zu diesem Zweck wird in jedes einzelne IP-Paket die Steuerungsinformation in Gestalt der Absender- und Zieladresse geschrieben, so dass sich die Pakete unabhängig voneinander durch die Netzknoten routen lassen. Aber die Internetnutzung habe sich gewandelt, begründete Hagen Woesner, Gründer und CEO des auf SDN spezialisierten Berliner Unternehmens BISDN in seiner Keynote die Abkehr von alten Leitbildern. Der Sprach- und Videoverkehr habe stark zugenommen, "und das bedeutet, das die Kommunikation von einer großen Zahl von aufeinanderfolgenden Paketen bestimmt wird".

Mit SDNs lassen sich Paketflüsse erkennen und zum Beispiel Videostreams entsprechend der Geschäftspolitik des Betreibers effizienter routen. Für Kazuya Hashimoto, Executive Vice President von NEC Europe, sind SDNs ein weiterer Schritt der Verschmelzung von Computer- und Netzwerktechnik. "In der Netzentwicklung dreht sich jetzt alles um Software", erklärte er auf der WTC 2014. "Das macht es sehr viel leichter, neue Übertragungsdienste einzuführen".

Getrieben werde die Entwicklung durch die Over-the-Top-Player des Internet, sagte Hashimoto. Diensteanbieter und Plattformbetreiber wie Amazon, Facebook oder YouTube nutzten die Netzinfrastrukturen nahezu kostenlos machten so "eine Menge Geld"; die Netzbetreiber dagegen müssten mehr und mehr in den Ausbau der Infrastrukturen investieren, ohne an darüber erzielten Erlösen teilzuhaben. "Für sie ist das wirklich eine große Gefahr [–] sie brauchen etwas, womit sie neue Einnahmen generieren können."

Weitere Chancen sieht der NEC-Manager in der durch SDN ermöglichten "Virtualisierung" von Teilnehmeranschlüssen. "Indem wir eine Vielzahl von Funktionen aus dem Heim ins Netz verlagern, können wir das Management des Home Gateways stark vereinfachen". Die größten Probleme hätten Netzbetreiber derzeit mit den vielen Anrufen beim Kundendienst, weil irgendetwas mit den Anschlussroutern nicht funktioniere. Doch Störungen seien innerhalb der eigenen Domain des Betreibers sehr viel einfacher zu beheben als vor Ort beim Kunden, warb dafür das Home Gateway in die Cloud auszulagern.

Auch in einem Heimspiel unter gleichgesinnten Fachleuten wie auf der WTC 2014 kommt mitunter Nachdenklichkeit auf. Wie sich die mit SDN angestrebte Service Agility durch die Echtzeiterhebung von Verkehrs- und Nutzungsdaten mit dem Datenschutz vereinbaren lasse, wollte ein Diskutant von Markus Hofmann wissen. Der Bell-Lab-Forschungschef sieht darin ein gewaltiges Problem. Es sei "schockierend" festzustellen, was heute schon an Informationen über einzelne Nutzer aus sozialen Netzwerken herauszuziehen sei. "Wer Facebook, Google+, Snapchat oder Instagram nutze, gibt seine Privatsphäre im Grunde völlig auf." Statt die User vor eine Schwarz-Weiss-Entscheidung zu stellen, entweder alle coolen Features und Dienste nutzen zu können oder draußen zu bleiben, plädierte Hofmann für einen Mittelweg. Die Lösung sollte darin liegen, die Nutzer über die Risiken aufzuklären und ihnen abgestufte Einflussmöglichkeiten einzuräumen, was sie von sich preisgeben möchten. (anw)