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Space Debris Conference: Friedhofsorbit oder Todesstern

Hans-Arthur Marsiske
Space Debris Conference: Todessterne und Satellitenschwärme im Erdorbit

Projekt Necropolis: Ein kleiner "Jäger" sammelt alte Satelliten ein und befestigt sie an einem Gerüst. So können ganze "Todessterne" wachsen.

(Bild: Guest Associates)

Zum Abschluss der Konferenz über Weltraumschrott ging es einmal mehr kreative Lösungen, wie man alte Satelliten sinnvoll entsorgt: In einen Friedshofsorbit schicken oder auf einen Todesstern verbannen?

In Simulationen des Weltraummülls wie dem Film Space Debris – A Journey to Earth [1], der auf der 7th Space Debris Conference [2] in Darmstadt seine Premiere erlebte, sorgt der Bereich in größter Erdnähe stets für die eindrucksvollsten Szenen. Wie ein Insektenschwarm wuseln hier die Überreste von 60 Jahren Raumfahrt durcheinander und unterstreichen die Notwendigkeit, endlich einmal richtig aufzuräumen. Die etwas ferner liegenden Problemzonen sollten darüber aber nicht vergessen werden.

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Francesca Letizia (University of Southampton) etwa beschäftigte sich mit Satelliten, die an den Librationspunkten positioniert sind, wo sich die Gravitation von Erde, Mond und Sonne gegenseitig aufheben und sehr stabile Orbits mit konstanter Entfernung zur Erde möglich sind. Insbesondere für astronomische Observatorien sind die Punkte L1 und L2 in 1,5 Millionen Kilometer Entfernung attraktiv (siehe dazu auch das "Zahlen, bitte! Lagrange-Punkt zwischen Erde und Sonne" [6]). Es gebe aber bisher keine Verfahren, das Risiko eines unkontrollierten Wiedereintritts solcher Satelliten in die Erdatmosphäre abzuschätzen oder sie am Ende ihrer Betriebszeit kontrolliert wieder herunterzuholen.

Elisa Maria Alessi hat für die italienische Forschungsbehörde CNR untersucht, wie das Sonnenobservatorium Soho, das seit 1995 vom L1 aus seine Beobachtungen durchführt, auf die Erde zurückgeholt werden könnte. Problematisch ist dabei insbesondere die mit etwa 11 km/s gegenüber erdnahen Satelliten (7,9 km/s) erheblich höhere Geschwindigkeit, mit der die Sonde in die Atmosphäre eintreten würde. Kleine Ungenauigkeiten in der Berechnung der Flugbahn könnten dramatische Auswirkungen darauf haben, wo Trümmerteile am Boden auftreffen.

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Auch der Eintrittswinkel spielt eine Rolle: Bei einer steilen Flugbahn ist der atmosphärische Widerstand zwar größer, wirkt dafür aber über kürzere Zeit als bei einer flachen Bahn, sodass die Sonde möglicherweise nicht vollständig verglüht. Kritisch äußerte sich Alessi zur derzeit gängigen Praxis, Satelliten von den Librationspunkten einfach davon driften und in eine Umlaufbahn um die Sonne eintreten zu lassen. "Für die nähere Zukunft ist das sicher", sagte sie. "Aber was ist in 100 oder 200 Jahren?"

Auf sehr exzentrischen Orbits mit Entfernungen zwischen 19.000 und 119.000 Kilometern bewegen sich die vier Cluster-Satelliten [8] zur Untersuchung des irdischen Magnetfeldes um die Erde. Auch hier können kleinste Unterschiede in den Flugbahnen extreme Auswirkungen beim Wiedereintritt in die Atmosphäre haben, der für die Jahre 2024 bis 2027 geplant ist. Stijn Lemmens vom Space Debris Office der ESA erläuterte, wie heute schon daran gearbeitet wird, die Satelliten in möglichst menschenleeren Regionen auf der Südhalbkugel abstürzen zu lassen – und sie dabei von Flugzeugen aus zu beobachten. Schließlich sei dies eine seltene Gelegenheit, den unkontrollierten Wiedereintritt mehrerer baugleicher Satelliten zu untersuchen und damit das Verständnis, wie sie dabei auseinander brechen zu verbessern.

In etwa 36.000 Kilometern Höhe über dem Äquator befindet sich der geostationäre Orbit. Objekte in dieser Umlaufbahn umkreisen die Erde mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit wie diese um ihre Achse rotiert. Sie scheinen daher über einem Punkt der Erdoberfläche stillzustehen. Es ist der bevorzugte Orbit für Kommunikationssatelliten, die Telefongespräche oder Fernsehprogramme übertragen. Für sie hat sich das Verfahren etabliert, sie am Ende ihrer Lebensdauer in einen mehrere hundert Kilometer höheren "Friedhofsorbit" zu bewegen, wo sie ihre noch aktiven Kollegen nicht gefährden.

Das funktioniere bisher ganz gut, sei aber über Jahrhunderte gesehen keine Lösung, sagte Roger Longstaff von der Firma Guest Associates. Er schlug als Alternative die Mission Necropolis [9] vor, bei der die ausgedienten Satelliten nicht einfach auf einen höheren Orbit geschoben, sondern gezielt eingesammelt und an einem größeren Gerüst befestigt werden. Wenn das "Terminus" genannte Gerüst voll ist, könne es mit einem anderen verbunden werden und auf diese Weise nach und nach ein "Todesstern" jenseits des geostationären Orbits heranwachsen, wo die Satellitenüberreste sicher aufbewahrt werden.

Am dringlichsten verlangt jedoch weiterhin der erdnahe Bereich nach Lösungen. Hier habe sich die Zunahme der Müllteile von einem in den 1990er-Jahren noch linearen Wachstum mittlerweile zu einem eher exponentiellen Wachstum gewandelt, sagte Konferenzeiter Holger Krag bei der abschließenden Pressekonferenz. Die derzeit geplanten großen Satellitenkonstellationen, für die in den kommenden mehrere tausend Satelliten in Orbits in 1000 bis 1200 Kilometer Höhe gebracht werden sollen (und damit mehr als in den vergangenen 60 Jahren insgesamt), stellten eine besondere Herausforderung dar, weil in dieser Höhe kein atmosphärischer Widerstand dafür sorgt, dass die Flugkörper früher oder später von selbst abstürzen.

Es habe in der Forschung Fortschritte gegeben, fasste Krag die Konferenz zusammen. So würden die kleinen Müllteile im Millimeterbereich besser verstanden. Auch könne die Eigenbewegung größerer Objekte vom Boden aus präziser erfasst sowie deren Orbits mit Lasern vermessen werden, auch wenn sie nicht mit Reflektoren ausgestattet sind. Es gebe Ideen, Satelliten so zu konstruieren, dass sie sich beim Wiedereintritt in die Atmosphäre möglichst vollständig auflösen (Design for Demise). Auch die Entwicklung von Technik zum Abschleppen von großen Müllteilen ginge voran.

Warum Deutschland bei diesem Thema nicht die Führung übernehmen will, indem die Bundesregierung bei der ESA-Mission e.Deorbit zum Beseitigen des funktionslosen Satelliten Envisat einsteigt, konnte die anwesende Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) jedoch nicht beantworten. ESA-Generaldirektor Jan Wörner gab zu bedenken, dass es vielleicht nicht ratsam sei, solche neuen Techniken gleich an einem so großen Müllobjekt zu erproben. Ohnehin halte er mehr davon, Satelliten zu entwickeln, die mehrere Objekte einsammeln können, statt selbst mit jedem einzelnen abzustürzen: "Sie kaufen doch auch keinen neuen Computer, um ihn gleich darauf wegzuwerfen."

Es gibt auch schon interessante Konzepte wie etwa den an der Texas A&M University entwickelten Sling-Sat Space Sweeper: Der Satellit soll Objekte einfangen, durch Rotation in die Atmosphäre schleudern und den dabei gewonnenen Impuls nutzen, um das nächste Objekt anzusteuern. Es ist aber fraglich, ob solche komplexen Technologien realisiert werden können, ohne vorher die teurere und weniger nachhaltige Lösung erprobt zu haben.

Die Rückholung von Envisat werde mehrere hundert Millionen Euro kosten, wie Wörner schätzt. Sie könnte aber ein deutliches Zeichen setzen, wie ernst es Europa mit dem Aufräumen im All meint, und wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu nachhaltigeren Technologien. Damit ließen sich die Kosten zumindest teilweise unter Öffentlichkeitsarbeit und Lehrgeld verbuchen und die Mission insgesamt bezahlbar machen. (vbr [10])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3690868

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.esa.int/spaceinvideos/Videos/2017/04/Space_debris_-_a_journey_to_Earth
[2] http://space-debris-conference.com
[3] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Space-Debris-Conference-Bring-mal-den-Muell-runter-3687582.html
[4] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Space-Debris-Conference-Wie-faengt-man-einen-Satelliten-3689995.html
[5] https://www.heise.de/news/Space-Debris-Conference-Wer-mit-Kanonen-auf-Satelliten-schiesst-3688777.html
[6] https://www.heise.de/hintergrund/Zahlen-bitte-1-5-Millionen-km-entfernt-Lagrange-Punkt-zwischen-Erde-und-Sonne-3103018.html
[7] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[8] http://sci.esa.int/cluster/
[9] http://www.hempsellastro.com/wp-content/uploads/2014/05/Necropolis-Report-Issue-1.pdf
[10] mailto:vbr@heise.de