Ohrwurm-Alarm: Gehirn speichert Lieder genauer ab als gedacht
Mehr Menschen als gedacht treffen beim Singen von OhrwĂĽrmern die richtige Tonart, zeigt eine Studie. Dabei spielt Talent keine entscheidende Rolle.
Schon beim Wort Ohrwurm verdrehen viele Menschen leidvoll die Augen – na? Klebt schon was? Zahlreiche Tipps und Tricks finden sich im Internet, wie man den nervigen Sprung in der körpereigenen Jukebox wieder loswird. Wer beim Lesen bereits ein Lied mitsingt oder -summt, kann die Tonhöhe der Melodie im Kopf gleich mal mit dem Original abgleichen. Eine Studie deutet nun darauf hin, dass unser Gedächtnis ein Lied erstaunlich präzise abspeichert – auch wenn es nicht bewusst abgerufen wird, sondern als Ohrwurm in unserem Kopf kreiselt. Demnach sind deutlich mehr Menschen spontan in der Lage, Ohrwürmer akkurat wiederzugeben, als bisher angenommen – und haben eine Art verstecktes absolutes Gehör.
Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass etwa eine von 10.000 Personen ein sogenanntes absolutes Gehör besitzt. Diese Menschen sind in der Lage, auf Kommando einen bestimmten Ton zu singen, ohne einen Referenzton zu haben, oder einen klingenden Ton zu erkennen. Berühmte Persönlichkeiten mit dieser Gabe sind etwa Ludwig van Beethoven, Ella Fitzgerald oder Mariah Carey.
Tonhöhengedächtnis auch bei Ohrwürmern präzise
Ein Beispiel: Soll eine Person mit absolutem Gehör ein eingestrichenes A singen, trifft sie diesen Ton auf Anhieb – ohne vorher einen anderen Ton gehört zu haben, an dem sie sich orientieren könnte. Und dennoch haben Studien gezeigt, dass Versuchspersonen, die sich an ein bekanntes Lied erinnern und es aus dem Gedächtnis singen sollten, in 15 Prozent der Fälle in der richtigen oder nahezu richtigen Tonart singen – also auf der gleichen Höhe wie das Original. Das ist fast doppelt so viel, wie der Zufall erwarten ließe. In einer früheren Untersuchung lag dieser Wert sogar bei über 20 Prozent.
Ein Forschungsteam der University of California – Santa Cruz wollte nun wissen, ob Menschen unterbewusst in der Lage sind, die richtige Tonhöhe zu treffen, oder ob sie sich dafür bewusst anstrengen müssen. Um das herauszufinden, machten sie sich Ohrwürmer zunutze. Diese Quälgeister sind eine unfreiwillige Gedächtniserfahrung. Da Ohrwürmer zufällig auftreten und ihre Opfer sie nicht bewusst abrufen, konnten die Forscher herausfinden, ob das Tonhöhengedächtnis auch bei einem zufällig aufploppenden Song im Kopf noch so genau ist. "Die Ergebnisse, dass Ohrwürmer tatsächlich sehr stark der Tonart des Originalsongs folgten, legt nahe, dass musikalische Erinnerungen und die Art und Weise, wie sie in unserem Gehirn kodiert und aufrechterhalten werden, etwas Einzigartiges sein könnten", teilt die Universität mit.
"Automatisches, verstecktes absolutes Gehör"
Für die Untersuchung bekamen die 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über den Tag verteilt eine zufällige Aufforderung, ihren aktuellen Ohrwurm zu singen und mit dem Smartphone aufzunehmen. So erhielt das Forscherteam innerhalb von zwei Wochen bis zu 42 Aufnahmen pro Person. Knapp 45 Prozent der Aufnahmen stimmten mit der Tonart des Originals überein; fast 70 Prozent wichen maximal einen Halbton vom Original ab.
"Das zeigt, dass ein überraschend großer Teil der Bevölkerung über eine Art automatisches, verstecktes 'absolutes Gehör' verfügt", sagt Matt Evans, Leiter der Studie und Doktorand der Kognitionspsychologie Matt Evans. "Interessanterweise wären die Leute, wenn man sie fragen würde, wie sie bei dieser Aufgabe abgeschnitten haben, wahrscheinlich ziemlich sicher, dass sie die Melodie richtig getroffen haben, aber sie wären viel weniger sicher, dass sie in der richtigen Tonart gesungen haben", vermutet Evans. Viele Menschen mit einem sehr guten Tonhöhengedächtnis könnten ihre Genauigkeit nicht so gut einschätzen, erklärt der Studienleiter weiter. Das unterscheide sie womöglich von Menschen mit absolutem Gehör, da diese auch in der Lage sind, Töne, die sie hören, zu bestimmen.
Gedächtnisforscher gehen davon aus, dass das Langzeitgedächtnis die Kerninformation für Erinnerungen speichert, erläutert Psychologie-Professor Nicolas Davidenko. Das Gehirn nehme Abkürzungen, um Informationen abzubilden. Eine davon könnte sein, dass das Gedächtnis die originale Tonart vergesse, schließlich klingt Musik auch in verschiedenen Tonarten ähnlich. Das sei aber nicht der Fall. "Bei diesen musikalischen Erinnerungen handelt es sich tatsächlich um hochpräzise Abbildungen, die sich der typischen Kern-Bildung entziehen, die in einigen anderen Bereichen des Langzeitgedächtnisses stattfindet", sagt Davidenko.
Performance meist besser als Selbsteinschätzung
Studienleiter Evans hofft, Menschen zu ermutigen, mehr Musik zu machen. Keiner der Probanden sei Musiker gewesen und auch die Tonhöhengenauigkeit der Probanden habe sich nicht darüber voraussagen lassen, wie gut sie objektiv singen konnten. Evans macht deutlich, viele Menschen ließen sich nicht aufs Singen ein, weil sie denken würden, sie könnten es nicht. Dabei müsse niemand ein Star sein, um Musik zu machen. "Das Gehirn macht schon einiges davon automatisch und akkurat, trotz des Teils von dir, der denkt, dass du es nicht kannst." Die Ergebnisse erschienen in der Zeitschrift Attention, Perception & Psychophysics.
Wer es direkt einmal ausprobieren möchte, findet Inspiration in Playlists bei Musikstreaming-Diensten oder in dieser Liste – eine Auswahl von ChatGPT4o:
- "YMCA" – Village People (1978)
- "Take On Me" – a-ha (1984)
- "Macarena" – Los del RĂo (1993)
- "Blue (Da Ba Dee)" – Eiffel 65 (1999)
- "Mambo No. 5" – Lou Bega (1999)
- "Dragostea Din Tei" – O-Zone (2003)
- "Call Me Maybe" – Carly Rae Jepsen (2011)
- "Gangnam Style" – PSY (2012)
- "Despacito" – Luis Fonsi ft. Daddy Yankee (2017)
- "Blinding Lights" – The Weeknd (2020)
Und hier gibt es noch einen Ohrwurm-Tipp der Redaktion.
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(are)