Studie: Regierungen nutzen Coronakrise als Vorwand für Überwachung und Zensur

Die US-Organisation Freedom House sieht die Pandemie als Sargnagel für die Freiheit des Internets – und untermauert ihre These mit zahlreichen Beispielen.

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Studie: Regierungen nutzen Coronakrise als Vorwand für Überwachung und Zensur

Freedom House untersucht jährlich den Grad der "Internetfreiheit" in 65 Nationen.

(Bild: Freedom House)

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Inhaltsverzeichnis

Die Coronakrise beschleunigt den Trend zu Online-Zensur und Überwachung – so lautet die zentrale These der US-Organisation Freedom House in ihrem neuen Bericht zum Stand der "Internetfreiheit". Regierungen in aller Welt hätten die Pandemie als Vorwand zur Einschränkung und Missachtung von Rechten genutzt, kritisieren die Autoren.

Die Geschichte zeige, dass in Krisenzeiten eingeführte Techniken und Gesetze oft von Dauer seien, sagte Adrian Shahbaz, Co-Autor der am Mittwoch veröffentlichten Studie. "Im Rückblick werden wir Covid-19 genau wie den 11. September 2001 als Zeitpunkt sehen, an dem Regierungen neue, aufdringliche Mittel zur Kontrolle ihrer Bürger dazugewonnen haben."

Freedom House konzentriert sich in seiner Studie auf drei Hauptthemen: Überwachung, Zensur sowie den Zerfall des Internets in nationale Teilnetze unter dem Schlagwort der "Cyber-Souveränität". Insgesamt ging der von Freedom House ermittelte Grad der Internetfreiheit im zehnten Jahr in Folge zurück.

Im Kapitel zum Thema Überwachung kritisieren die Autoren, dass ein hoher Anteil der weltweiten Corona-Apps zur Überwachung missbraucht werden kann. Die meisten Entwickler hätten Datenschutzanforderungen missachtet, die Quelltexte der meisten Anwendungen seien nicht einsehbar.

Die Autoren nennen zahlreiche Beispiele wie die in Indien rund 50 Millionen mal installierte App "Aarogya Setu", die Bluetooth- und GPS-Daten an Regierungsserver schicke. Mit einer weiteren App namens "Jio" seien in Indien Symptomdaten von Millionen Bürgern gesammelt und dann ohne Zugriffsschutz auf Server gestellt worden. In Moskau müssten Bürger Selfies an Behörden übermitteln, um zu belegen, dass sie die Quarantäne einhalten. Singapur habe Migranten dazu verpflichtet, Kontakt-Tracing-Apps zu nutzen.

Als weitere Negativbeispiele werden unter anderem Apps aus Bahrain und der Türkei erwähnt. Die umfassendsten und drakonischsten Maßnahmen habe jedoch China ergriffen. Als positives Beispiel für ein Corona-Warn-System mit offenem Quellcode und dezentraler Struktur verweisen die Autoren auf die estnische App "Hoia". Die ebenfalls offene und dezentrale deutsche Corona-Warn-App wird nicht erwähnt.

Die Apps sind jedoch nur eines von vielen Mitteln der Überwachung: Mindestens 30 Regierungen – darunter die von Pakistan, Sri Lanka und Südkorea – überwachen laut Freedom House ihre Bevölkerung in Zusammenarbeit mit Mobilfunkanbietern.

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In mindestens 28 der insgesamt 65 untersuchten Länder hätten die Regierungen Online-Inhalte blockiert oder zensiert, um kritische Berichte zu Covid-19 zu unterdrücken, heißt es im Kapitel über Zensur.

Besonders systematisch gingen die Zensoren demnach in China vor: Sie hätten mehr als 2000 Schlüsselwörter definiert, um Inhalte mit Bezug zur Pandemie aus dem Netz zu filtern. Selbst harmlose Fragen oder Beobachtungen seien unterdrückt worden. Medien hätten strenge Anweisungen erhalten, wie sie über das Virus zu berichten haben. Aber auch Bangladesch, Ägypten, Venezuela, Weißrussland und weitere Länder hätten Corona-Inhalte zensiert oder blockiert.

In 45 der 65 untersuchten Länder wurden laut Freedom House Journalisten oder ganz normale Bürger festgenommen oder angeklagt, weil sie sich online zu Covid-19 geäußert hatten. Sie hätten falsche Informationen verbreitet, die die öffentliche Ordnung gefährden könnten, so habe dabei oft der Vorwand gelautet.

Als beunruhigend sieht Freedom House auch den Trend zum "Splinternet" aus nationalen Teilnetzen. Als Vorreiter nennen die Autoren China mit seiner "Great Firewall". Auch Russland habe jüngst Gesetze erlassen, um das Land während Ausnahmezuständen vom Rest des Internets abschneiden zu können. Ein weiteres Beispiel sei der Iran.

Aber auch Demokratien zögen immer mehr digitale Grenzen hoch, kritisieren die Autoren. Sie verweisen dabei unter anderem auf das Vorgehen der USA und Indiens gegen chinesische Social-Media-Apps, aber auch auf das Privacy-Shield-Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Damit sei "eines der größten Abkommen zum Teilen von Daten" gekippt worden.

Deutschland kommt in der neuen Studie auf 80 von 100 möglichen Punkten, genau wie im Jahr zuvor. Punktabzüge gibt es unter anderem aufgrund des NetzDG, das Plattformen zum Löschen von Inhalten verpflichtet.

(cwo)