Thors Hammer gegen Covid-19: Erste Pille vor der Notfallzulassung

Molnupiravir hat in klinischen Tests vielversprechende Resultate erzielt. Wir erklären, wie die vermutlich erste Pille gegen das SARS-CoV-2-Virus funktioniert.

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(Bild: Viki Mohamad/Unsplash)

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Das US-amerikaniksche Pharmaunternehmen Merck (außerhalb der USA als MSD geführt) will für das zusammen mit Ridgeback Biotherapeutics entwickelte Medikament molnupiravir eine Notfallzulassung in den USA beantragen und weltweit Anträge bei anderen Zulassungsbehörden einreichen. Das meldet das Unternehmen nach vielversprechenden Ergebnissen der klinischen Phase-3-Studie, an der 775 Covid-19-Patienten teilgenommen haben.

Mit Remdesivir gibt es zwar bereits ein Medikament, das die Hospitalisierung von Covid-19-Erkrankten nachweislich senkt, aber es wird intravenös als Spritze verabreicht, was die Handhabung aufwendig macht. Molnupiravir soll man als Pille einnehmen können.

Die klinische Phase-3-Studie lief weltweit, darunter in Argentinien, Italien, Japan, Großbritannien und den USA. Eine Gegenprüfung der vorläufigen Ergebnisse durch unabhängige Fachleute steht noch aus (Peer-Review). Alle Teilnehmer der Studie wiesen eine labortechnisch belegte, leichte bis mittelschwere Covid-19-Erkrankung auf, aber zusätzlich auch einen gesundheitlichen Risikofaktor, der in der Regel zu einem schlechten Krankheitsverlauf führt.

Von den Patienten, die nur ein Scheinpräparat erhielten (Placebo), wurden 14,1 Prozent in ein Krankenhaus eingewiesen (53 von 377). Von den 53 hospitalisierten Patienten ohne molnupiravir verstarben 8. Unter den Patienten, die molnupiravir erhielten, betrug der Anteil der hospitalisierten Personen nur 7,3 Prozent (28 von 385). Keine davon starb während des Prüfzeitraums.

Merck zufolge senkt molnupiravir "das Risiko hospitalisiert zu werden oder an Covid-19 zu versterben, signifikant", nämlich um rund 50 Prozent. Ursprünglich war geplant, insgesamt 1550 Patienten für die Studie zu rekrutieren. Diesen Plan hat Merck nun aufgrund der positiven Ergebnisse in Absprache mit der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) vorzeitig gestoppt, um den Zulassungsvorgang zu beschleunigen. Robert M. Davies, CEO von Merck, sagte: "Wir wollen nun alles in unserer Macht Stehende tun, um molnupiravir so schnell wie möglich zu den Patienten zu bringen".

Bei unabhängigen Medizinern und Forschern löste die Meldung von der erfolgreichen Phase-3-Studie positives Echo aus. Vor der Notfallgenehmigung seien aber noch viele Fragen zu klären, darunter Art und Umfang möglicher Nebenwirkungen oder die Verträglichkeit und Dosierung bei Kindern.

Merck führt bisher auf Grundlage der frühen Entwicklungsphase nur Statistiken zu "unerwünschten Ereignissen" auf (adverse events), ohne genauer zu benennen, was genau damit gemeint ist. Die Anzahl der unerwünschten Ereignisse sei aber bei beiden Gruppen ähnlich gewesen (mit molnupiravir 35 Prozent, mit Placebo 40 Prozent). Auch die Häufigkeit der arzneimittelbedingten unerwünschten Ereignisse – also vermutlich Nebenwirkungen – sieht ähnlich aus (12 Prozent mit molnupiravir gegenüber 11 Prozent mit Placebo). Unter den Patienten der molnupiravir-Gruppe brachen die Therapie 1,3 Prozent wegen "unerwünschter Ereignisse" ab. In der Placebo-Gruppe waren es 3,4 Prozent.

Dean Li, Leiter der Forschung und Entwicklung bei Merck, sagte in einem Interview gegenüber US-Medien, dass unter den Nebenwirkungen keine auffällig gewesen sei. Das Unternehmen will die Studie aber noch weiter auswerten, bevor es vollständige Daten veröffentlicht.

Unter den Ergebnissen von Merck erscheinen besonders die Erbgutanalysen des infektiösen Materials ermutigend: Bei rund 40 Prozent der Teilnehmer wurde die Sequenz des Virusstamms labortechnisch ermittelt. Darunter fanden sich dann wie erwartet auch besorgniserregende Varianten, nämlich Gamma, Delta und Mü. Molnupiravir wirkte laut der Studie gegen alle drei Varianten gleich gut.

Zur Wirkungsweise von molnupiravir äußerte sich Merck nicht. Dean Li ist aber überzeugt, dass molnupiravir sehr gut auch gegen besorgniserregende SARS-CoV-2-Varianten helfen kann, und zwar auch gegen künftige. Wörtlich sagte er: "Wie Sie wissen, ist es sehr wahrscheinlich, dass mit der Zeit neue SARS-CoV-2-Varianten entstehen. Unsere Vorhersage auf Basis von Laboranalysen und jetzt mit diesen Daten der klinischen Studie ist, dass Molnupiravir richtig benannt ist – Sie wissen schon, es ist nach Thors Hammer Mjölnir benannt. Es ist ein Hammer gegen SARS-CoV-2, unabhängig von der Variante."

Die Herleitung des Namen bleibt hängen, so viel ist gewiss. Wer aber anhand des Namens auf die Funktionsweise rückschließen möchte, wird in die Irre geführt. Schon eher kann man molnupiravir mit einem Wackelstein vergleichen, der die Virusvermehrung durch massenhafte Kopierfehler im Code des Erbguts behindert.

Nachdem die Virushülle das Viruserbgut in die menschliche Zelle freigibt, liest die menschliche Proteinfabrik (Ribosomen) das Erbgut ab und erzeugt diverse Proteine. Darunter befindet sich ein besonderes: die virale RNA-Polymerase (RNA-dependant RNA-Polymerase, RdRp). Die RdRp startet die Vervielfältigung des Viruserbguts. Sie trägt also entscheidend zum Infektionsgeschehen bei, denn die danach gebildeten neuen Viren-RNAs müssen nur noch in neue Kügelchen verpackt und aus der Zelle geschleust werden, um andere Zellen und Menschen zu befallen.

In menschlichen Zellen kommen andere RdRps mit gänzlich anderen Funktionen vor. Sie sind aber für das Überleben von menschlichen Zellen nicht unbedingt erforderlich. Deshalb sind Wirkstoffe, die sich allgemein gegen RdRps richten, potenziell gute Waffen gegen virale Krankheitserreger. Man nimmt dabei in Kauf, dass ein Hemmstoff menschliche RdRps vorübergehend blockiert, denn der Nutzen ist größer als der Schaden. Inzwischen haben einige Forschungsgruppen erste solche Hemmstoffe gegen RdRps entwickelt. Bis heute sind auf dieser Grundlage antivirale Medikamente gegen Hepatitis C und Covid-19 entstanden. Dazu gehört auch Remdesivir, das bisher einzige von der FDA zugelassene Medikament gegen Covid-19.

Molnupiravir ist jedoch kein Hemmstoff für RdRps. Stattdessen erhöht es die Fehlerrate im Virus-Code. Der Zusammenhang in aller Kürze: Nach der Aufnahme gelangt molnupiravir ins Blut und wird wie viele andere Medikamente verstoffwechselt. Dabei erzeugt der Körper einen Stoff, der für RdRps wie einer der vier Bausteine aussieht, aus denen sie neue RNAs synthetisieren – es ist dem Cytidin sehr ähnlich. Tatsächlich handelt es sich aber um ein modifiziertes Cytidin, nämlich um beta-D-N-4-Hydroxycytidin-5′-Triphosphat, oder kurz EIDD-1931-5′-Triphosphat. RdRps können die beiden Stoffe nicht unterscheiden und nehmen bei der RNA-Synthese das, was gerade vorhanden ist. Das hat aus Sicht des Virus fatale Folgen: EIDD-1931 tritt in der RNA in zwei Formen auf, eine sieht weiterhin Cytidin ähnlich, aber die andere sieht Uridin ähnlich. In der Folge führt das zu massiven Mutationen im Virus-Code und zu dysfunktionalen Syntheseprodukten (letale, also tödliche Mutagenese).

Ein so stark mutierter Virus-Code eignet sich nicht mehr zur Produktion der üblichen Viren-Proteine. Stattdessen entstehen dysfunktionale Trümmerhaufen, also keine Spike-Proteine, keine Virushüllen et cetera. Ein anderes Beispiel: Zum Viren-Arsenal gehören auch Mini-Proteine, die den Gegenangriff der Zelle blockieren. Auch diese sind in Folge der Mutagenese durch EIDD-1931 missgestaltet und funktionieren nicht.

In der Zelle kommt aber das übliche Cytidin weiterhin vor; sie braucht es ja für ihre eigenen Stoffwechselvorgänge. Daher entstehen trotz molnupiravir-Gabe zu einem gewissen Teil weiterhin auch funktionale Viren. Den bisherigen Studienergebnissen zufolge dürfte molnupiravir deren Syntheserate aber immerhin so weit bremsen, dass auch Patienten mit gesundheitlichen Risikofaktoren deutlich verbesserte Überlebenschancen haben.

Merck hofft nun auf eine Notfallzulassung und will dann bis Jahresende 10 Millionen Dosen herstellen und im nächsten Jahr weitere Mengen im Industriemaßstab. Nachdem der Wirkstoff in Phase-2-Tests gute Resultate zeigte, hatte die US-Regierung im Juni dieses Jahres ankündigt, bis zu 1,7 Millionen Dosen für 1,2 Milliarden US-Dollar zu kaufen – vorbehaltlich der behördlichen Genehmigung.

Merck hat derweil auch nicht-exklusive, freiwillige Lizenzvereinbarungen für molnupiravir mit etablierten Generikaherstellern abgeschlossen. So soll der Stoff in mehr als 100 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen beschleunigt bereitgestellt werden können, wenn lokale Aufsichtsbehörden eine Notfallgenehmigung oder Zulassung erteilen. Möglicherweise geht aber noch mehr. Merck untersucht inzwischen, ob sich der Stoff zur Vorbeugung eignet. Und prinzipiell taugt er auch als Vielzweckwaffe gegen andere Corona-Viren.

(dz)