US-Parteitage als Internetspektakel

Reality-TV und Internet haben die politische Bühne erreicht – zumindest im Präsidentschaftswahlkampf in den USA, der mit dem Parteitag der Republikaner ab dem heutigen Montag in seine heiße Phase eintritt.

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Von
  • Thomas Müller
  • dpa

Reality-TV und Internet haben die politische Bühne erreicht – zumindest im Präsidentschaftswahlkampf in den USA, der mit dem Parteitag der Republikaner ab dem heutigen Montag in seine heiße Phase eintritt. 24 Stunden am Tag können Internetnutzer die Delegierten des Republikanischen Wahlparteitages über 360 Grad-Kameras hoch oben an der Decke der riesigen Kongresshalle in Philadelphia beobachten und sie bis in den Schminkraum hinein verfolgen. Wer möchte, kann die im Netz live übertragenen Reden mit anderen politikbegeisterten Computernutzern in Chatrooms analysieren und seinem Delegierten schnell eine E-Mail schreiben.

Knapp 50 Jahre nachdem die amerikanischen Wahlparteitage durch das damals neue Medium Fernsehen vollkommen verändert wurden, wollen die Internetdienste die zweite Revolution einläuten und versprechen die offensten Parteitage in der Geschichte. Keine Beschränkungen mehr, jede Rede eines Delegierten auf dem viertägigen Kongress werde übertragen, kündigten Internet-Nachrichtendienste und Diskussionsforen wie speakout.com, pseudo.com oder der Onlineriese AOL an.

Vor vier Jahren war AOL noch so unbekannt, dass niemand so recht etwas mit dem Onlinedienst anfangen konnte und er darum kämpfen musste, überhaupt eine Presseakkreditierung zu erhalten. Heute hat AOL eine Kamera in der begehrten "Skybox" an der Decke, in der bisher nur die großen TV-Sender vertreten waren. Auch Pseudo.com hat sich eine der 360-Grad Kameras gesichert, die sich von den Nutzern per Mausklick steuern lassen. Wer will, kann die Kamera so lenken, dass er Präsidentschaftskandidat George Bush oder aber seinen Lieblingsdelegierten immer im Blick hat. Und während vor vier Jahren allenfalls eine Handvoll Reporter für Internetdienste arbeiteten, sind es jetzt auf dem Parteitag der Republikaner und dann Mitte August bei den Demokraten jeweils schon etwa tausend. Beide Parteien haben eigene "Internet Alleen" für die Onlinejournalisten angelegt, denn auch sie haben die Bedeutung des neuen Mediums erkannt.

Der Vorsitzende des Demokratischen Parteitags, Terence McAuliffe, erklärte vor kurzem, seine Partei werde nicht länger versuchen, die Fernsehsender zu einer umfangreicheren Berichterstattung zu überreden. Sie setzte lieber auf das neue Medium Internet. Die Parteien sind von den großen, frei empfänglichen Fernsehsendern wie ABC, CBS und NBC enttäuscht, die ihre Berichterstattung seit Jahren zurückschrauben, stattdessen lieber Football übertragen und die Politik ihren Nachrichtenablegern im kostenpflichtigen Kabelnetz überlassen.

Zudem setzen die Parteien auf eigene Onlineauftritte. Beide Parteien versprechen gläserne Parteitage und wollen ein vollkommen neues Demokratieverständnis über das Netz vermitteln. Die Republikaner bieten Computernutzen unter der Adresse www.gopconvention.com an, sich als virtuelle Delegierte registrieren zu lassen und dann den Vertretern aus ihrem Bundesstaat über die Schulter zu blicken. Die Demokraten versprechen den Parteitag mit bis zu zehn 360-Grad-Kameras komplett abzudecken. Hinzu kommen Internetkameras in den Delegiertenreihen. Selbst im Schminkraum der Politiker werde es Kameras geben, drohte McAuliff. Und wer dann noch will, kann über die Internetseite www.dems2000.com schnell noch für die Partei spenden.

Ob die allumfassende Berichterstattung beim Publikum ankommt, bleibt abzuwarten. Die Parteitage waren in den vergangenen Jahren politisch immer uninteressanter geworden, da alle Entscheidungen wie die Wahl des Präsidentschaftskandidaten bereits vorher fielen. Doch die Internetdienste setzen auf die kleine Gruppe der Politikjunkies. AOL-Politikchefin Kathleen deLaski erklärte in der New York Times», nicht jeder lebe mit jemanden zusammen, der sich auch für Politik interessiere. Hier biete ein AOL-Chatroom parallel zur Übertragung der Rede des Präsidentschaftskandidaten Bush die Möglichkeit, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Ähnlich wie bei der Big-Brother-Container-Soap können die Internetzuschauer auf den verschiedenen Webseiten der Onlineforen auch über die Kandidaten und ihre Programme abstimmen. Rausfliegen, wie beim Big-Brother-Spektakel, dürfte allerdings weder George Bush noch sein demokratischer Gegenspieler Al Gore. (Thomas Müller, dpa) (jk)