Videosprechstunde beim Arzt: Warum bei 30 Prozent Schluss ist

Telemedizinanbieter sehen sich zunehmend mit Herausforderungen im deutschen Markt konfrontiert. Leistungen von Ärzten würden nicht angemessen vergütet.

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(Bild: Billion Photos/Shutterstock.com)

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Während der Coronakrise konnten Ärztinnen und Ärzte für gesetzlich Versicherte unbegrenzt Videosprechstunden anbieten, wodurch die Telemedizin einen Boom erlebte. Laut dem Pressesprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Roland Stahl, wurde die Sonderregelung von der KBV und dem Verband der gesetzlichen Krankenkassen "schnell und unkompliziert beschlossen und umgesetzt". Dies sei auch in Zukunft möglich. Seit dem 1. April 2022 gilt für Ärzte allerdings wieder eine Obergrenze, sodass sie lediglich 30 Prozent ihrer Leistungen als Videosprechstunde abrechnen können. Für den schwedischen Telemedizinanbieter Kry mit ein Grund, sich aus dem deutschen Markt zurückzuziehen. Konkurrent Zava hat ebenfalls angekündigt, seine App aufgrund der "Rahmenbedingungen für die Erbringung von Videosprechstunden im deutschen Gesundheitsmarkt" in eine Art "Winterschlaf" zu versetzen.

Dabei stellt die 30-Prozent-Obergrenze gemäß des Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) bereits eine Ausweitung der Regelungen von 20 auf 30 Prozent für die Videosprechstunde dar. "Sie ist ein ergänzendes Tool, kein allgemeiner Ersatz des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts. Dieser ist und bleibt der Goldstandard", unterstreicht Stahl. Demnach hatte sich auch gezeigt, dass sich die Nutzung der Videosprechstunde "in den Monaten, in denen während der Pandemie die Lockdown-Phasen zurückgefahren wurden" deutlich verringert hat. Daraus schließt Stahl, dass die Patienten den persönlichen Kontakt bevorzugen.

Der eHealth-Experte und Dekan für den Bereich Gesundheit und Soziales an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, David Matusiewicz, unterstellt der KBV aufgrund der bestehenden Obergrenze Lobbyismus für "rückständige Ärztinnen und Ärzte. [...] Es ist eine unbegründete Angst des Verlustes der eigenen beruflichen Stellung und Angst vor Konkurrenz und der Ersetzbarkeit [der Ärztinnen und Ärzte]", sagt Matusiewicz. Für ihn sei es"völlig unverständlich, warum hier in Essen Lungen-Patienten teilweise fast 100 km für ein kurzes Arztgespräch fahren müssen, was während der Coronakrise, empirisch durch die Praxis belegt, wunderbar telemedizinisch funktioniert hat."

Die betroffenen Plattformbetreiber im digitalen Gesundheitsbereich sind der Ansicht, dass "die Regulatorik die Telemedizin mehr unterstützen könnte", wie der Geschäftsführer von Medgate Deutschland, Andreas Bogusch, auf eine Anfrage von heise online, sagt. "Wer kontaktlose und für Patientinnen und Patienten im Alltag hilfreiche Telemedizin etablieren möchte, sollte Anreize setzen statt Telemedizin durch Mengenbeschränkungen und Vergütungsabschläge zu diskriminieren. [...] Die Verfügbarkeit digitaler Sprechstunden sollte nicht davon abhängen, ob der persönliche Arzt noch unterhalb der 30-Prozent-Grenze liegt. Der Markt könnte die Vorteile digitaler Anbieter weitaus mehr in die Versorgungslandschaft integrieren."

Die von uns befragten Telemedizinanbieter sehen in den Spezifikationen der staatlichen Telematikinfrastruktur eine weitere Herausforderung. Seit Jahren ringen an der Telematikinfrastruktur Beteiligte mit dem Einlöseweg für das E-Rezept, die Identifikationswege und den Konnektoren, führt Bogusch aus. Das sei kein verlässlicher Rahmen – die Regulatorik im Bereich der gesetzlichen Versicherung könnte innovationsoffener und -fördernder sein. Mehr Möglichkeiten gebe es diesbezüglich im Bereich der privaten Versicherungen. Es brauche eine Versorgungsstruktur, "die erstens über telemedizinische Kapazitäten und zweitens über notwendige Kompetenzen und Equipment verfügt, damit die digitale Versorgung auch bei den Bürgern ankommt".

Für Victoria Meinertz, Pressesprecherin von Zava, spielt allerdings auch eine Rolle, dass das E-Rezept bisher noch nicht in der Versorgung angekommen ist. "Bei der Durchführung von Videosprechstunden kommt es so zu einem Medienbruch und einem Prozess, der weder Ärzte noch Patienten zufriedenstellen kann: Am Ende einer Videosprechstunde möchte kein Patient ein Papier-Rezept in der Praxis abholen müssen. Genauso will kein Arzt nach einem digitalen Austausch mit einem Patienten ein Papier-Rezept ausdrucken, unterschreiben und postalisch versenden." Daher sei das E-Rezept nicht nur der Motor, sondern auch Voraussetzung für die skalierbare Einführung für die Telemedizin in Deutschland.

Gerade aufgrund des Hausarztmangels müsse das deutsche Gesundheitssystem laut Meinertz effizienter werden – Arztpraxen erfahren somit möglicherweise eine Entlastung. Zwar könne die Telemedizin alleine nicht helfen, aber einen wesentlichen Teil zur Effizienz beitragen. Dafür müssten die Rahmenbedingungen allerdings entsprechend angepasst werden. Dies sei vor allem im ländlichen Raum mit geringer Arztdichte wichtig. Mit telemedizinischen Angeboten lassen sich Versorgungslücken schließen, was auch Projekte wie der Telenotarzt oder der zunehmende Ausbau der Videosprechstunde im ärztlichen Bereitschaftsdienst – für deren Abrechnung keine Obergrenze gilt – zeigen. Laut Teleclinic-Geschäftsführer Max Müller lassen sich durch die online durchgeführten Arztgespräche auch "Anreize für Ärzte schaffen, sich im ländlichen Raum niederzulassen".

Daher sei es "wünschenswert, Versicherte gemeinsam mit Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen noch stärker aufzuklären", wie Müller sagt. Die bisher bestehenden Möglichkeiten seien nicht patientenorientiert ausgestaltet. Die Versorgung brauche "ordnungspolitische Grundsätze und feste gesetzliche Leitplanken", um sich weiterentwickeln zu können. Demnach müssten Ärzte ihren Anteil an Online-Konsultation frei ausgestalten können – die 30-Prozent-Obergrenze halte er für nicht zeitgemäß, dennoch will das Unternehmen seinen Dienst weiterhin auch für gesetzlich Versicherte anbieten.

Erst kürzlich hat eine repräsentative Umfrage des Branchenverbands Bitkom unter 1.144 Befragten ab 16 Jahren gezeigt, dass 62 Prozent der Versicherten sich in Vorbereitung auf einen Arztbesuch im Internet oder über eine App zu ihren Symptomen informieren. Ganze 43 Prozent hatten in der Folge einer Recherche sogar schon auf einen Arztbesuch verzichtet, in der Regel stelle die Suche allerdings eine Ergänzung des Arztbesuchs dar. Dabei steige die Zahl derer, die sich online über ihre Beschwerden informieren, kontinuierlich – 2020 lag die Zahl noch bei 53 Prozent.

(mack)