Videoverhandlungen in der Corona-Krise: Der Richter und seine Kamera
In Zeiten von Pandemie und Abstandsregeln setzen Bayerns Gerichte verstärkt auf Video-Verhandlungen. Rechtlich möglich war das schon länger.
Das Landgericht München I hat in der Corona-Krise investiert – in eine neue Videokonferenzanlage. Zwölf Mal ist sie nach Gerichtsangaben inzwischen schon zum Einsatz gekommen, Einsätze in neun Verfahren sind fix geplant. "Wir sind sehr zufrieden", sagt Gerichtssprecherin Anne Fricke. "Die Anlage ist leicht zu bedienen und technisch sicher."
Verhandlungen per Webcam unproblematisch
"Völlig unproblematisch" sei seine erste Verhandlung per Webcam verlaufen, sagt auch Richter Nikolaus Lange – und sein Kollege Christian Schupp, der als "richterlicher IT-Beauftragter" seine Kollegen geschult hat, stimmt ihm zu. "Wenn überhaupt ist das Nadelöhr die Technik auf der anderen Seite": ein nicht angeschaltetes Mikrofon zum Beispiel – "der Klassiker". "Das kennt sicher jeder, der in seinem Berufsalltag Tools für Videokonferenzen nutzt", sagt Gerichtssprecherin Fricke. Um diese Probleme so gering wie möglich zu halten, gibt es aber immer noch einen technischen Testlauf vor dem eigentlichen Verfahren.
Das Interesse der Richter-Kollegen an der Technik sei durchaus da, ein Ausbau der Technik gewünscht. "Wir haben einen entsprechenden Bedarf bereits angemeldet. Wir hoffen, dass die Haushaltslage diese Anschaffung im nächsten Jahr zulässt", teilt das Gericht mit.
Wie das Landgericht München I setzen auch andere Gerichte in der Corona-Krise verstärkt auf Videotechnik. Der Vorteil: Kläger, Beklagte und Anwälte müssen nicht quer durch die Republik reisen, gerade für Risikopatienten ist das eine gute Alternative.
Pandemie zeigt DigitalisierungslĂĽcken
"Die Bundesländer sollten die Corona-Krise zum Anlass für einen Digitalisierungsschub in der Justiz nehmen", mahnte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn, schon im Mai. "Die Ausnahmesituation der Pandemie hat ein Schlaglicht auf Lücken bei der IT-Ausstattung der Gerichte geworfen."
Gesetzlich möglich sind Videoverhandlungen aufgrund des Paragrafen 128a der Zivilprozessordnung schon seit Jahren, genutzt wurde diese Möglichkeit bislang kaum. Die Corona-Krise aber beschleunigt einmal mehr die digitale Entwicklung – weil Gerichte sonst derzeit kaum noch eine Chance haben, die Prozessflut zu bewältigen.
Tatsächlich ist der Weg aber noch weit: Nach wie vor verfügt nur etwas mehr als die Hälfte der 98 ordentlichen Gerichte in Bayern über die Technik für Videokonferenzen. "58 Videokonferenzanlagen stehen derzeit zur Verfügung", sagte Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) Ende Juli der Deutschen Presse-Agentur in München. Zwölf zusätzliche Anlagen sollen in diesem Jahr noch dazukommen. "Unser Ziel ist eine flächendeckende Ausstattung."
Papierfreies Gericht als Ziel
An Sozialgerichten im Freistaat gibt es noch gar keine Videotechnik, wie der Präsident des Landessozialgerichtes in München, Günther Kolbe, sagt. Dennoch ist er überzeugt: "Die Digitalisierung der Justiz ist jetzt deutlich auf dem Vormarsch." Seit dem 3. August können alle Arbeitsagenturen und Familienkassen den Sozialgerichten ihre Akten elektronisch übermitteln. Ziel für 2022 ist das papierfreie Gericht. Akten sollen dann nur noch in digitaler Form vorhanden sein - zumindest die neuen. Für die Digitalisierung der alten Bestände fehlten die Kapazitäten, sagt Kolbe. Mit der Einführung der elektronischen Gerichtsakte sollen bis 2022 dann auch alle Sitzungssäle neu ausgestattet werden. "Auch die Videokonferenztechnik haben wir fest im Blick."
Der Vorsitzende der FDP-Fraktion im bayerischen Landtag, Martin Hagen, kritisiert, es gebe "noch enorme Defizite bei der Digitalisierung der bayerischen Justiz". Nach dem Willen der FDP-Fraktion sollen alle bayerischen Zivilgerichte bis Ende 2021 mit Videokonferenzsystemen ausgestattet werden. "Es ist höchste Zeit, Bayerns Gerichte technisch auf die Höhe der Zeit zu bringen", fordert Hagen. Auch außerhalb von Pandemiezeiten seien Videoverhandlungen durchaus sinnvoll. "Die Möglichkeit, Verhandlungen per Videokonferenz durchzuführen, würde Gerichtsverfahren beschleunigen."
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Minister Eisenreich geht die Nutzung in Zivilprozessen sogar noch nicht weit genug. "Im Strafverfahren sollten die rechtlichen Möglichkeiten eines Video-Einsatzes zumindest für die Dauer der Corona-Pandemie ausgeweitet werden", sagte er. "Wenn Zeugen wegen Quarantänemaßnahmen, Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe oder Reisebeschränkungen nicht im Gerichtssaal erscheinen können, sollten sie in der Hauptverhandlung per Video vernommen werden können."
Videoverhandlungen "kein Allheilmittel"
Bislang sind Zeugenaussagen per Video nur in ganz seltenen Ausnahmefällen möglich, beispielsweise wenn dem Opfer eines Sexualdeliktes die persönliche Konfrontation mit dem Angeklagten im Gerichtssaal erspart werden soll.
Die komplette Verlegung eines Strafprozesses in die virtuelle Welt sei "weder möglich noch sinnvoll", betonte die Vorsitzende des bayerischen Richtervereins, Andrea Titz, im Mai, Videoverhandlungen seien "kein Allheilmittel". "Unabhängig von der Frage, was derzeit gesetzlich überhaupt zulässig ist, leben viele Verfahren nun einmal davon, dass sich der Richter im Sitzungssaal einen persönlichen Eindruck von den Verfahrensbeteiligten und Zeugen macht."
(mho)