Vor 20 Jahren: Die Mauer öffnete sich

Was den 9. November als einen Tag deutscher Geschichte anbelangt, so wechseln sich Höhepunkte und Tiefpunkte miteinander ab.

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Von
  • Detlef Borchers

Die Mauer vor dem Brandenburger Tor Anfang Dezember 1989

Am Abend des 9. November 1989 verlas der DDR-Regierungsprecher Günter Schabowski im Rahmen einer Pressekonferenz einen Beschlussvorschlag zur ständigen Ausreiseregelung für DDR-Bürger (PDF-Datei). Schabowski verlas sich im wörtlichen Sinne: Er hatte die letzte Seite des Dokumentes nicht gelesen, dass die Regelung am 10. November um vier Uhr früh verkündet werden sollte. Auf die Frage, wann die Regelung in Kraft tritt, konnte Schabowski die Seite nicht finden: "Das trifft nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich." Viereinhalb Stunden später wird der erste Grenzübergang komplett geöffnet. Ein weiterer 9. November wird in der Geschichte des demokratischen Deutschlands notiert.

Was den 9. November anbelangt, so wechseln sich Höhepunkte und Tiefpunkte miteinander ab. Am 9. November 1848 wurde Robert Blum, Abgeordneter der deutschen Nationalversammlung in Wien hingerichtet. Am 9. November 1918 riefen Karl Liebknecht die "Freie Sozialistische Republik Deutschland" und Philipp Scheidemann die "Deutsche Republik" aus, nachdem die Monarchie im Zuge des Matrosenaufstandes von Kiel abdanken musste. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 begann mit der Zerstörung von jüdischen Einrichtungen im Deutschen Reich in den Novemberpogromen die gezielte Verfolgung der Juden.

Wie alle anderen Ereignisse, so hatte auch der Fall der Mauer eine Vorgeschichte. Über die Grenze der CSSR flohen die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zu Hunderttausenden in den Westen. Kurz vor dem 9. November hatte die Bürgerrechtsbewegung der DDR in der bislang größten Demonstration am 4. November der Regierung den offenen Widerstand erklärt. Diese versuchte seit geraumer Zeit, den Druck abzubauen. So wurde im Oktober der langjährige Regierungschef Erich Honecker gestürzt. Auch der eingangs erwähnte Beschlussvorschlag gehörte dazu: Es galt, eine Regelung für die Unzufriedenen zu finden, die die DDR verlassen wollten. Von einer offenen Grenze war weder in dem Papier noch unter den Bürgerrechtlern die Rede, die demokratische Reformen forderten.

Der 20. Jahrestag der Maueröffnung wird von allen deutschen Medien gefeiert. Besonders interessant sind die Überlegungen der Bürgerrechtler, was Golden war und was Schwarz in der DDR, desgleichen die Geschichten aus der Provinz.

Die weitaus größte Mehrheit der Deutschen Ost wie West erlebte die Öffnung der Mauer im Fernsehen. Auch der Autor dieser Zeilen schaute fassungslos in die Glotze, allerdings in einem Hotelzimmer in Las Vegas. Seinerzeit stand die Computermesse Comdex auf dem Programm, über 120.000 IT-Fachleute versammelten sich in den Casino-Hotels, in deren Ballräumen die Messe damals stattfand. Als Neuerung wurde damals Comdex-TV in die Hotelzimmer aller großen Hotels ausgestrahlt – doch das Programm setzte auf einmal aus. Bilder aus dem nächtlichen Berlin wurden gezeigt, bald in einer Art Endlosschleife, unterbrochen nur von Kommentatoren und Schaltungen zum Weißen Haus. Auch unten im Hotel, im riesigen Spielcasino mit den dauernd klickernden Münzautomaten, liefen diese Bilder, unterbrochen von Sportwetten und der Ankündigung der Hotelleitung, dass alle Deutschen, "West, East or otherwise", auf Kosten des Hauses trinken können.

Als c't-Reporter schickte ich meinen Messebericht "Im Westen nichts Neues?" über Compuserve, einem Online-Dienst, der nicht mehr existiert, genau wie die Comdex und die DDR: "Bis spät in die Nacht drehten sich die Diskussionen um die Mauer, die Menschen in den deutschen Staaten, um Lebensqualitäten und immer wieder um 'die Russen', die erstmals auch nach Las Vegas kamen." Tatsächlich interessierte die Amerikaner vor allem, was "der Russe" machte, diese unheimliche Größe, eine Bedrohung, gegen die der gerade abgedankte Präsident Reagan noch ein interstellares Schutzschild versprochen hatte.

Sehr bald war klar, dass die Öffnung der Mauer erst der Anfang vom Ende war. Die freie Fahrt in den Westen wurde sehr schnell zu einem Freifahrtschein in umgekehrter Richtung. Unter denen, die die Chance auf eine andere Wendung wünschten, befand sich die Schriftstellerin Christa Wolf, die ihre Haltung am 28. November 1989 in Worte fasste: "Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarisch Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird."

Die Piratenpartei, angetreten als Partei unter anderem gegen Internet-Zensur und für Bürgerrechte in der Informationsgesellschaft, schlägt zum heutigen 20. Jahrestag des Mauerfalls noch einen anderen Bogen: Man rufe dazu auf, "die Lehren aus zwei Unrechtsregimen nicht zu vergessen und die unmenschlichen Taten von Organisationen wie der Gestapo oder der Staatssicherheit auf deutschem Boden nicht zu verharmlosen. Auch das seit dem 11. September 2001 oftmals nur als Deckmantel genutzte Argument steigender terroristischer Gefahren und die gezielt geschaffene Kultur der Angst dürfen nicht dazu führen, dass Staaten in unverantwortlicher Weise in die Freiheit des Einzelnen, in die Trennung der Gewalten und in die Bürgerrechte eingreifen." (jk)