Wearables zum "digitalen Entgiften" und als Solaranlage

Die Welt der tragbaren IT-Technik beschränkt sich nicht auf Datenbrillen, Smartphones oder vernetzten Uhren, machten Unternehmerinnen auf dem Tech Open Air in Berlin klar. Sie arbeiten an Filtern fürs Internet der Dinge und Kleidung mit Solar-Panels.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 67 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Kate Unsworth, Gründerin der Firma Kovert Designs in London, hat sich das schier Unmögliche vorgenommen: sie möchte Technik einsetzen, um die Menschen unabhängiger von der Technik zu machen. Die Unternehmerin hat ihr Smartphone selbst immer stärker als Ablenkung in persönlichen Gesprächen empfunden, berichtete sie am Mittwoch auf dem Tech Open Air in Berlin. Ohne den Facebook-Feed oder das Twitter-Konto zu checken, habe sie schon lange kein Treffen mehr beenden können.

Die bekennende Online-Abhängige möchte ihren Zwangsgriff zum Handy und vergleichbare Aktionen vieler Zeitgenossen mit elektronisch aufgerüstetem Schmuck bekämpfen, der per Bluetooth mit dem Smartphone ständig in Verbindung steht und mithilfe einer Filtersoftware nur noch die gerade wichtigen Kontakte und Kommunikationswünsche durchlässt. Dazu arbeitet das Unternehmen laut Unsworth gerade an verschiedenen Profilen wie etwa Bürobesprechung, Dinner, Party oder Urlaub, mit der man die Erreichbar -und Durchlässigkeit für Dritte wie Familienangehörige, Freunde oder Unbekannte festlegen könne.

Entsprechende Ringe, die zwecks der Kommunikationsfähigkeit mit recht großen Klunkern ausgestattet sind, möchte Kovert Designs bald auf den Markt bringen. Die Gründerin denkt neben diesen Schmuckstücken, die ein "digitales Detox-Phänomen" befeuern sollen, aber bereits an weitere Anwendungsfelder der "Juwelen" etwa für Bezahlfunktionen, zur Gestikkontrolle oder für biometrische Sensoren.

Tech Open Air 2014 (7 Bilder)

Wearable Future

Kate Unsworth und Paulien Routs sprechen über Mode und Technik.
(Bild: heise online/sk)

Auch Kunden- oder Einlasskarten könnten die Accessoires am Körper ersetzen, hofft Unsworth, die sich eher im Modesektor als im Gadget-Bereich verankert sieht. Zumindest zähle bei Kovert das Design im Unterschied etwa zu den vielen bereits verfügbaren elektronischen Fitness-Armbändern, die man kaum auseinanderhalten könne. Die mittelfristige Zukunft gehöre aber wohl Implantaten, mit denen die Technik beim werdenden Cyborg im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehe.

"Der Körper wird zur Schnittstelle", glaubt auch Paulien Routs, Markenmanagerin beim niederländischen Startup Pauline Van Dongen. Wearables würden mehr und mehr dazu genutzt, um Informationen über den eigenen Leib zu beziehen. Routs hält dies für eine "sehr gesunde Denkweise", da es dabei auch um Nachhaltigkeit gehe.

In Berlin schickte die Holländerin aber zunächst ein Model mit einem tragbaren Solarpanel auf den virtuellen Laufsteg der Alten Teppichfabrik, in der die "Unconference" des Festivals stattfindet. "Wir arbeiten gerade an zwei Prototypen für Wearable Solar", führte Routs aus. Mit dem entsprechenden Kleid oder Mantel solle es möglich sein, bei Lichteinstrahlung ein angeschlossenes Mobiltelefon in zwei Stunden aufzuladen.

Mode und Technik verschmelzen zum Beispiel in Kleidern, die weitgehend per 3D-Druck erstellt worden seien und stark mit eingeflochtenen Elementen wie Kabeln arbeiteten, erzählte Routs. Die neuen Fertigungsverfahren eigneten sich nicht nur für maßgeschneiderte Anziehsachen, sondern brächten auch eine ganz eigene Ästhetik mit sich. Dahinter stehe eine Logik, die sich dem ständigen Wechsel in der gängigen Fashion-Welt entziehe. Angestoßen habe Van Dongen nun mehrere Projekte zusammen mit Universitäten, in denen das professionelle handwerkliche Fertigen einer neuer Generation Wearables vorangetrieben werde.

Auf dem Festival gibt es neben einigen Diskussionsrunden und Vorträgen vor allem Kurzreferate zu hören. Auf der einen Bühne reißt ein Mittdreißiger unter dem Motto "Hack your Happiness" in zehn Minuten angeblich neurowissenschaftliche Wege an, um die eigenen Gewohnheiten und Gehirnstrukturen in Richtung Wohlfühlen zu lenken. Wer wirklich zuhören will, erhält einen Kopfhörer und damit das vorne Gesagte direkt auf die Ohren gefunkt, wenn das Gerät mitspielt. Wenige Meter weiter werden die Zuhörer in den Roboterjournalismus bei der "Los Angeles Times" eingeführt, wo erste Erdbebenmeldungen per Algorithmus erstellt werden.

Die Veranstalter des Tech Open Air, hinter denen der Gründer und Berater Nikolas Woischnik steht, rechnen dieses Jahr mit rund 2500 Besuchern der Konferenz und der am Donnerstag stattfindenden "Satellitenveranstaltungen" in zahlreichen Unternehmen und Institutionen der Hauptstadt. Von ein paar Hundert Besuchern, die sich anfangs für das Projekt erwärmten, hat sich das Festival so zum internationalen und interdisziplinären Treffpunkt für die Kreativ- und Technologiewirtschaft entwickelt. Es soll in seinem dritten Jahr 2014 erstmals keine roten Zahlen mehr schreiben. (vbr)