Werkstattkalender 2016: Zwischen Trash und Fotokunst

Der Pirelli-Kalender ist zwar der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige mit hohem Budget produzierte Werkstattkalender. Wir stellen die wichtigsten Vertreter dieses unterschätzten Fotogenres mit opulenten Bilderstrecken vor.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Sascha Steinhoff
Inhaltsverzeichnis

Der klassische Werkstattkalender ist seit Jahrzehnten ein überaus beliebter Werbeträger für eher bodenständige Produkte wie Schraubenschlüssel, Reifen oder Schmieröle. Für den Fotografen ist der künstlerische Spielraum bei derartigen Projekten meist eher gering. Die ebenso simple wie erfolgreiche Formel besteht überwiegend darin, das Produkt zusammen mit einem leicht oder gar nicht bekleideten weiblichen Model in Szene zu setzen. Der gestalterische Spielraum ist oft gering, dafür stimmen die Rahmenbedingungen: Der Hersteller bezahlt nicht nur den Fotografen und die Models, er hat auch Abnehmer für die meist kostenlos verteilten Kalender. Für Fotografen kann ein derartiges Kalendershooting aber nicht nur finanziell, sondern auch künstlerisch eine Bereicherung sein. Selbst ein Helmut Newton hat seine Karriere mit Fotos von Gartengrills für eine Baumarktkette begonnen. Auch damals wußte Newton seine grillenden Models schon in der für ihn typischen Weise zu inszenieren.

STIHL Kalender 2016 (12 Bilder)

Januar

(Bild:
STIHL/Esther Haase)

Der mit Abstand bekannteste Werkstattkalender ist der jährlich erscheinende Pirelli-Kalender. Von der ursprünglichen Ausrichtung als Pin-Up-Kalender mit Reifenwerbung hat sich das Projekt inzwischen sehr weit entfernt. Inzwischen steht nicht mehr das Produkt im Vordergrund, sondern der sorgsam gehegte Mythos des Pirelli-Kalenders selbst. Für ihn werden stets die besten und teuersten Fotografen und Models gebucht. In ihrem Bestreben, jeweils ganz neue Schwerpunkte zu setzen, hat sich das Projekt aber weit von seinen Ursprüngen entfernt. Die jüngsten Experimente von Annie Leibovitz beim 2016er Kalender wurden durchaus kontrovers diskutiert. Es gibt aber neben neben dem Pirelli-Kalender gleich eine ganze Reihe ähnlicher und durchaus vielversprechender Fotoprojekte. Große Unternehmen wie beispielsweise Würth, STIHL, Liqui Moly, Stahlgruber und Berner produzieren eigene Kalender für ihre Kunden. Bei Würth hat der eigene Kalender eine über dreißigjährige Tradition. Der 2015er Kalender wurde in einer Auflage von 723.000 Exemplaren gedruckt, auch andere Hersteller investieren erhebliche Summe in die Kundenbindung per Kalender. Wir hätten gerne die Würth-Kalenderblätter in diesem Artikel gezeigt, sind mit diesem Begehren aber an deren Marketing-Abteilung gescheitert.

Der STIHL-Kalender ist ein moderner Klassiker, es gibt ihn schon seit 1973. Der aktuelle Kalender wurde von der Starfotografin Esther Haase in Südafrika fotografiert. Es dominieren gedeckte Farben, hervorgehoben sind Hauttöne und die Gehäuse der STIHL-Geräte. Ohne die Geräte könnten Bilder dieser Art ohne weiteres in einer Fotokunst-Ausstellung hängen. Ob man die Fotos wie der Hersteller als "einzigartige Verbindung von Mensch und Maschine" sieht, oder die Werbung als notwendiges Übel eines ansonsten gelungenen Bildstrecke ansieht, liegt im Auge des Betrachters. Möglicherweise werden nachgeborene Generationen die hübschen Motorsägenmädchen mit dem gleichen Interesse betrachten, wie wie wir heute antike Amazonenstatuen. Eine weitreichende Verbreitung des Kalenders ist bei einer Auflage von 900.000 Exemplaren und einem Verbreitungsgebiet von 110 Ländern in jedem Fall gesichert.

Mehr Infos

Genderfragen und Ästhetik

In diesem Artikel stellen wir Ihnen exemplarisch Werkstattkalender des Jahres 2016 vor. Bei der Auswahl der Kalender kam es uns darauf an, die künstlerische Bandbreite des Fotogenres abzubilden. Bei Werkstattkalendern ist von ambitionierter Fotokunst bis zum billigen Pin-Up wirklich alles möglich, wir haben bewußt nicht selektiert. In einer Zeit in der Geschlechterrollen extrem kontrovers diskutiert werden, gibt es ohnehin kein Foto, mit dem jeder Betrachter und jede Betrachterin glücklich werden kann. Apropos Betrachterin: Unternehmen wie Berner, Addinol, Förch und Merkle-Schweißtechnik entziehen sich möglichen Gender-Diskussionen elegant, indem sie zwei Kalender parallel produzieren. Und zwar jeweils einen mit männlichen und einen mit weiblichen Models.

Der deutsche Motoröl- und Additiv-Hersteller Liqui Moly hat das Shooting für den aktuellen Kalender in Südafrika durchgeführt. Eigenen Angaben zufolge wollte man die Anziehungskraft exotischer Autos mit der Anziehungskraft erotischer Frauen verbinden. Im Gegensatz zu vielen anderen Werkstattkalendern, kann man auch als Nicht-Kunde den Kalender im hauseigenen Shop für 18 Euro bestellen. Die Bildästhetik erinnert an D&W-Tuningkalender der 1980er-Jahre, Ähnliches gilt für das über die Fotos transportierte Frauenbild.

Liqui Moly Kalender 2016 (12 Bilder)

Januar

(Bild: Liqui Moly)

Die Unternehmensgruppe Berner SE aus dem schönen Künzelsau handelt im Direktvertrieb unter anderem mit Werkzeugen. Im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern zeigt Berner ästhetische Schwarzweiß-Bilder ohne sichtbaren Produktbezug. Es gibt zusätzlich zum klassischen Kalender mit Frauenbildern noch einen Kalender mit Männerbildern. Wir zeigen beide Bildstrecken im Vergleich. Es mag Zufall sein, aber die weiblichen Models scheinen mit noch mehr Aufwand in Szene gesetzt worden zu sein, als ihre männlichen Pendants.

Berner Kalender Women 2016 (13 Bilder)

Coverbild

(Bild: Berner)

Hier zum Vergleich der Kalender Berner Men:

Berner Kalender Men 2016 (13 Bilder)

Coverbild

(Bild: Berner)

Bei der Modelsuche geht Stahlgruber ungewöhnliche Wege. Stahlgruber bucht sie nicht über eine Agentur, der Hersteller schreibt die begehrten Modeljobs ausschließlich unter seinen Kundinnen aus. Bewerben kann sich jede Kundin, es genügt die Angabe ihrer Kundennummer, einiger persönliche Daten und natürlich ist auch eine Nahaufnahme des Gesichts und ein aussagekräftiges Ganzkörperfoto in der Ausschreibung gefordert. Den "schönsten Kundinnen" winkt dann die Teilnahme am Kalender. Vorher sind aber noch einige Hürden zu überspringen. Nach einer Vorauswahl der vielversprechendsten Teilnehmerinnen, werden die Fotos zum Online-Voting hochgeladen. Dort findet dann über einen Zeitraum von 6 Wochen das finale Voting statt, bei dem die endgültigen Fotomodelle ermittelt werden. Die Anmeldefrist für den 2017er-Kalender endet am 31. Januar 2016. Auch beim Kalender selbst geht Stahlgruber unkonventionelle Wege. Wer die App Aurasma installiert hat, kann die Kalenderblätter scannen und dadurch Multimediainhalte zum jeweiligen Shooting abrufen. Kaufen kann man den streng limitierten Kalender nicht, unter werkstattkultur.com kann man aber alle Fotos des aktuellen Kalenders und früherer Ausgaben abrufen. Hier lohnt es sich ein bißchen durch die Jahrgänge zu blättern. Der 2016er Kalender ist zwar eher schlicht gestaltet, in älteren Ausgaben war Stahlgruber aber durchaus experimentierfreudig.

Stahlgruber Kalender 2016 (13 Bilder)

Coverfoto

(Bild: Stahlgruber)

Es gibt auf dem Markt sehr viel mehr Werkstattkalender als die von uns vorgestellten. Im folgenden finden Sie eine naturgemäß unvollständige Liste mit weiteren Projekten, die es aus verschiedenen Gründen nicht in unsere Bilderstrecke geschafft haben.

Der Markt für Werkstattkalender ist nach wie vor groß, sonst würden nicht so viele Unternehmen gutes Geld in diese doch recht teuren Werbeträger investieren. Aus fotografischer Sicht ist die Qualität des Angebots bunt gemischt. Das Spektrum reicht von eher trashigen Bildern bis zur edlen Fotokunst. Speziell dann, wenn die Entscheidungsträger im Unternehmen den Fotografen freie Hand lassen, können aber wirklich gute Bilder entstehen. Wer sich für Akt- oder Beautyfotografie interessiert, der sollte den Markt in jedem Fall im Auge behalten. (sts)