Wie der Westen Russland mit Tech-Sanktionen schwächen will

Die USA und die EU wollen Russland von der Versorgung mit Chips abschneiden. Der Schritt könnte Putins Großmachtträume langfristig gefährden.

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 President Joe Biden signs the Emergency Reparation Assistance for Returning Americans Act, Tuesday, August 31, 2021, in the Oval Office of the White House.

US-Präsident Joe Biden will die industrielle Leistungsfähigkeit Russlands schwächen.

(Bild: Weißes Haus/Adam Schultz)

Lesezeit: 8 Min.
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Noch steht "Chervonenkis" auf dem respektablen 19. Platz der Top-500-Liste der schnellsten Supercomputer. Doch bald wird der Rechner des russischen Suchmaschinenkonzerns Yandex die Konkurrenz wohl davonziehen lassen müssen. Denn in Chervonenkis stecken keine russischen Chips, sondern Prozessoren und GPUs der US-Konzerne Nvidia und AMD. Diese dürfen nun nur noch mit Ausnahmegenehmigung der US-Regierung nach Russland liefern – genau wie alle anderen führenden Chiphersteller der Welt.

Das Chip-Embargo ist eines der wichtigsten Elemente des Sanktionspakets, das die US-Regierung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine verkündete. "Wir werden den Zugriff Russlands auf Finanzen und Technologie abwürgen und seine industrielle Leistungsfähigkeit auf Jahre hinaus schwächen", sagte US-Präsident Joe Biden. Man werde den Kontrahenten "von mehr als der Hälfte seiner High-Tech-Importe abschneiden".

„Wir werden Russland von mehr als der Hälfte seiner High-Tech-Importe abschneiden“, kündigte US-Präsident Joe Biden nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine an.

(Bild: Bild: Alex Brandon/AP/dpa)

Als Beispiele für die betroffenen Güter nennt die US-Regierung neben Chips auch Telekommunikationsausrüstung, Laser, Sensoren und Navigationssysteme. Wer solche Produkte nach Russland exportieren will, braucht eine Sondergenehmigung. So wollen die Amerikaner vor allem Lieferungen verhindern, von denen Putins Regierung und das russische Militär profitieren würden. Verkäufe für private Zwecke könnten eher genehmigt werden.

Biden kopiert eine Taktik, die die Regierung seines Vorgängers Donald Trump im Handelskrieg gegen China entwickelt hat: Außer US-Produkten fallen auch Güter ausländischer Unternehmen unter das Embargo – wenn bei der Produktion US-amerikanische Software oder Ausrüstung verwendet wurde. Andernfalls riskieren die Hersteller, selbst von den USA abgestraft zu werden.

Die als "foreign-direct product rule" bezeichnete Maßnahme weitet die Sanktionen erheblich aus. Denn zur Entwicklung moderner Chips sind Softwaretools (Electronic Design Automation, EDA) von US-Firmen wie Cadence oder Synopsys nötig. Und in allen modernen Chip-Fabs weltweit stehen Maschinen mit US-Technik. Deshalb fallen zum Beispiel auch Samsung aus Südkorea sowie TSMC aus Taiwan, der mit Abstand größte Chip-Fertiger der Welt, unter die Regeln. TSMC teilte mit, sämtliche Lieferungen nach Russland gestoppt zu haben.

Einen wichtigen Unterschied zu den Sanktionen gegen China gibt es aber: Während die US-Regierung in China nur gegen bestimmte Konzerne wie Huawei vorgeht, betreffen einige der Russlandsanktionen das ganze Land. Einige Konzerne wie Apple gehen sogar freiwillig über diese Regeln hinaus und liefern gar nichts mehr nach Russland, auch keine Produkte für Privatkunden.

Außer der US-Regierung erließ auch die EU-Kommission umfangreiche Tech-Sanktionen. Auf den Verbotslisten stehen bestimmte Arten von Mikroprozessoren, Mikrocontrollern, Messgeräten, Industriemaschinen und Produktionsanlagen – insbesondere "Dual Use"-Güter, die sowohl militärisch als auch zivil verwendet werden können.

Um die westlichen Embargos zu unterlaufen, bietet sich für Russland in erster Linie China als Lieferant an. Doch gleichwertigen Ersatz gibt es dort nicht: Gegen den größten chinesischen Chip-Auftragsfertiger SMIC bestehen US-Sanktionen, er kann deshalb viele Maschinen aus den USA oder der EU nicht kaufen und hängt bei 14-Nanometer-Technik fest.

"Durch chinesische Chip-Unternehmen könnte Russland die Sanktionen kaum umgehen", urteilt Jan-Peter Kleinhans, Experte für die Halbleiterindustrie bei der Stiftung Neue Verantwortung. Auch die chinesischen Fabs seien abhängig von europäischer, US-amerikanischer und japanischer Ausrüstung.

Die russische Chipindustrie selbst hinkt dem Westen noch weiter hinterher, als China dies tut. Russische Entwickler arbeiten zwar ebenso wie chinesische an "heimischen" Prozessoren, etwa das Moskau Center of SPARC Technologies (MCST) an den Elbrus-Typen mit VLIW-Befehlssatz. Doch auch diese Chips werden von TSMC produziert. Dasselbe gilt für den ARM-Serverprozessor BE-S1000 von Baikal Electronics.

Baikal könnte durch die Sanktionen kurzfristig auch den Support durch die britische ARM-Holding verlieren und langfristig keine weiteren ARM-Prozessoren mehr entwickeln, wie Kleinhans gegenüber c’t anmerkte.

Russland setzt auch auf die offene Befehlssatzarchitektur RISC-V, zum Beispiel entwickelt die Firma Syntacore RISC-V-Kerne. Mit dem Staatskonzern Rostec arbeitet Syntacore gemeinsam an Prozessoren für Desktop-PCs und Notebooks, die ab 2025 mit 12-Nanometer-Technik produziert werden sollen. Allerdings gibt es in Russland nur Fertigungsanlagen für gröbere Strukturen und man müsste auf China ausweichen. Auch andere Chips wie DRAM und Flash muss Russland größtenteils importieren.

Kurz gesagt hat Russland derzeit keine heimische Prozessortechnik auf Augenhöhe mit Produkten aus den USA, der EU oder Taiwan. Die meisten Experten glauben deshalb, dass die Tech-Sanktionen Russland durchaus wehtun werden, wenn auch eher langfristig statt sofort. Putin wolle eine Art militärisches Silicon Valley aufbauen und bei Techniken wie KI und Robotik weltweit führend werden, betont der Wirtschaftsforscher Bhaskar Chakravorti von der Tufts University in der Zeitschrift Foreign Policy. Die dafür nötigen Chips und Elektronik könne Russland jedoch nicht selbst produzieren. "Anders gesagt, eine Chip-Blockade könnte den russischen Vorhaben ernsthaft schaden." Komplett abschneiden lasse sich das Land jedoch kaum: Über kleine Handelsfirmen und dunkle Kanäle könnte sich das Putin-Regime weiter versorgen.

Die größte Gefahr ist aus Sicht von Chakravorti und anderer Experten jedoch eine andere: Die Sanktionen könnten China und Russland noch enger aneinanderbinden – und damit gleichzeitig auch den Graben zwischen den USA und China weiter vertiefen.

Positiv aus Sicht des Westens ist, dass es ihm wirtschaftlich kaum weh tut, wenn er Russland nicht mehr mit Chips beliefert. Russland steht nach Angaben des US-Chipindustrie-Verbands SIA gerade mal für 0,1 Prozent der weltweiten Chipkäufe. Auch für die deutsche Elektro- und Elektronikindustrie ist Russland "kein sonderlich großer Abnehmer", wie eine Sprecherin des Industrieverbands ZVEI gegenüber c’t sagte.

Bedeutsam ist allerdings die Stellung Russlands auf den Märkten für Kohle, Öl und Gas. Eventuelle Lieferstopps könnten auch die europäische Chipbranche treffen. Einerseits machen steigende Energiepreise die Produktion von Halbleitern, die extrem viel Energie schluckt, noch teurer. Andererseits sind zur Chipfertigung zahlreiche chemische Substanzen nötig und die chemische Industrie braucht wiederum Öl und Gas sowohl als Rohstoffe als auch als Energielieferanten.

Hinzu kommen Spezialprodukte, die Chiphersteller und deren Zulieferer aus Russland und der Ukraine beziehen, darunter Neongas. Die Industrie hat nach der Annexion der Krim aber wohl Vorräte aufgebaut. Zumindest erwartet der Chipverband SIA kurzfristig keine Produktionsunterbrechungen.

Russland liefert auch Metalle, die für zahlreiche Industriezweige wichtig sind, etwa Kupfer (30 Prozent der deutschen Importe) und Nickel (28 Prozent). Nickel ist etwa für Akkus wichtig. Die Preise dieser Metalle stiegen in den vergangenen Wochen bereits spürbar.

Komplett lahmlegen könnte Russland die hiesige Industrie jedoch selbst mit einem Lieferstopp nicht: "Die deutschen Unternehmen haben normalerweise Lagerbestände, die für einige Monate reichen", sagte ein Sprecher der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Und bei allen Metallen gebe es weitere Lieferländer. "In der Breite dürften die russischen Lieferungen ersetzbar sein."

Nicht ersetzbar sind die menschlichen Kosten, die Putin mit seinem Krieg bereits jetzt verursacht hat – durch Tod, Traumatisierung und Vertreibung. Betroffen ist davon auch die dynamische Tech-Industrie in der Ukraine. "Die Tech-Branche zählt zu den wichtigsten Exportfaktoren der Ukraine. Die Ausfuhr von Software und IT-Dienstleistungen wächst pro Jahr um rund 20 Prozent", sagte Niklas Veltkamp vom Digitalverband Bitkom gegenüber c’t.

Allein deutsche Unternehmen, darunter viele Start-ups und IT-Firmen, beschäftigen laut Veltkamp Zehntausende Ukrainer. Dabei gehe es längst nicht mehr nur um Software-Outsourcing: "Es hat sich in den vergangenen Jahren eine ambitionierte, kreative Tech-Start-up-Szene entwickelt, die etwas bewegen will, die Neues schaffen will. Auch hier zerstört der sinnlose kriegerische Angriff von Putin viele Hoffnungen."

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(cwo)