Zahlen, bitte! 263 Kilo Nerdtechnik – das Homeoffice-Fahrrad der 1980er

Ein Nerd schuf in den 1980ern eine smartes Liegefahrrad mit eingebauter IT-Technik, mit dem er beim Fahren arbeiten konnte. Leider war es etwas schwer.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 19 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Wer heute irgendwo am Strand seinen Laptop aufklappt und als Technonomade ein bisserl "Homeoffice" macht, vergisst schnell, dass die Anfänge des mobilen Computerns mühsam waren. Es war gar nicht so einfach, von überall ins Dataspace zu gelangen. Steven Roberts war ein Technonomade der ersten Stunden und ein begeisterter Fahrer von Liegefahrrädern obendrein.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Sein letztes Landgefährt baute er für 1,2 Millionen Dollar in dreijähriger Entwicklungszeit zusammen. Es wog 263 Kilogramm und kam dementsprechend nicht auf Langstrecken zum Einsatz. Der passende Name war BEHEMOTH, als Akronym für "Big Electronic Human-Energized Machine – Only Too Heavy". Es steht heute im Computer History Museum.

Die technonomadischen Abenteuer von Steven Roberts begannen damit, dass er im Jahr 1983 beschloss, sein Haus zu verkaufen und seine Arbeit als freier Technik-Journalist von unterwegs aus fortzusetzen. "Das Ganze war recht einfach: Alles, was ich tun musste, war mein Leben umzukrempeln, ein High-Tech-Fahrrad für mein Office und mein Gepäck zu bauen und dann mit dem Ding durch Amerika zu fahren, während ich weiter Artikel schreibe und abliefere", heißt es in seinem 1988 erschienen Buch "Computing Across America".

So entstand seine erste Konstruktion, Winnebiko genannt. Mit einem Packgewicht von 61 bis 88 Kilo (extra Wassertanks) pedalierte er von Columbus, Ohio zunächst an die Westküste, dann hinunter nach Florida und über Texas und Arizona, bis er schließlich Kalifornien erreichte – insgesamt eine Strecke von über 10.000 Meilen.

Bereits das erste Winnebiko besaß Solarzellen (5 W) für die Stromversorgung von CB-Funk und Lichtanlage, als Computer kam zunächst der TRS 80 Model 100 zum Einsatz, von Radio Shack als Micro Executive Workstation beworben. Im Verlauf der Reise wurde er durch einen HP 110 Laptop mit MS-DOS ersetzt, weil dieser ein batteriebetriebenes Floppy-Laufwerk hatte. Seine im Zelt oder auf der Parkbank oder im Hostel geschriebenen Texte schickte Roberts mit Genie (General Electric Network for Information Exchange) an die Redaktionen.

Konzeptzeichnung des Winnebiko-Liegefahrrads. Mit dem Rad waren der Erfinder und seine Frau über 6000 Meilen unterwegs.

(Bild: Steven Roberts, "Computing across America")

Mitunter erreichten sie das, was eine Generation vor ihm mit Jack Kerouac und seiner Elegie On the road gelang. Man lese nur Windows in the ha-ha. Während er durch Texas radelte, wird er von einem Auto gestoppt und erklärt geduldig sein Gefährt: "Verdammt, so überlebt man also einen Atomkrieg", fluchte der Fahrer.

Während der gesamten Reise durch die USA tüftelte Roberts an der Verbesserung seiner Ausrüstung herum. Der Technonomade war eben auch ein Maker der ersten Stunde. Das größte Problem stellte sich schon nach wenigen Wochen heraus: Liegendradfahren entspannt und gibt Ideen, aber zum Schreiben von Artikeln musste angehalten und mitunter das Zelt aufgebaut werden. Wie wäre es, wenn die beiden Lenker an jeder Seite Tasten hätten, zum Tippen von Texten?

Nach eigenen Chording-Experimenten fand Roberts ein System mit vier Tasten auf jeder Seite, das am Winnebiko II 1986 als Handlebar-Keyboard eingebaut wurde. Damit gehörte er zu den Pionieren der tragbaren Tastaturen in eine Ahnenreihe, die mit der Chording-Tastatur von Douglas Engelbart begann. Roberts kam beim Radeln auf 35 Zeichen pro Minute. Zusätzlich wurde ein Sprach-Synthesizer eingebaut.

Das Behemoth-Bike in der BBC-Doku "It'll never work".

(Bild: Screenshot: BBC/Youtube)

Aufsehen erregte das Rad vor allem mit dem Cockpit und seinen 165 Schaltern, die an das Cockpit eines Kampfjets erinnerten. Roberts und seine Lebensgefährtin fuhren auf ihren Rädern etwa 6000 Meilen, vor allem, um sein Buch "Computing across America" zu promoten. So besuchte Roberts Hacker-Konferenzen und sprach über das Forth-System, das im Winnebiko II genutzt wurde. Der Autor traf den Pedaleur mit seinem Gefährt auf der Comdex 1989 in Las Vegas, wo er über seine Abenteuer im "Dataspace" sprach. Das Winnebiko II wog 124 Kilogramm.

Für das nächste Rad-Projekt gewann Roberts wichtige Sponsoren aus der IT-Branche, allen voran Sun Microsystems, wo die Ingenieure ihren Spaß daran hatten, eine SPARC-Station als SPARCpack in ein Fahrrad einzubauen. Neben diesem Rechner und einem Toshiba-Laptop wurde im BEHEMOTH bis zum Start der Tour 1992 all die Dinge verbaut, die Nerds damals begeisterten, etwa ein Headset von Reflection Technology und ein Kreditkarten-Leser für den Buchverkauf on the Road. Das Wall Street Journal stellte seinen Lesern das Rad mit Anhänger als "Hal auf Rädern" vor.

Mit dem Gespann war der Technonomade zwar am Ziel seiner Träume angelangt, doch das Nomadenleben fand größtenteils im Kriechgang statt. Ein Trailer musste gekauft werden, um das schwere System auf verschiedenen Veranstaltungen zu zeigen. Am Ende kam das schwerste Tourenrad aller Zeiten ins Museum, natürlich in eines für die Bewahrung der Computergeschichte.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bei einer Reise mit den BEHEMOTH kam Roberts der Gedanke, dass die Technik besser in ein Boot passen könnte. Könnte sie? Prompt begann er mit der Konstruktion von Mikrochips. Das waren untereinander vernetzte Mini-Trimarane mit Solar-Panele, Pedal-Antrieb und natürlich Segeln für das Skippern entlang der Küstenlinien. Mittlerweile war Roberts so bekannt, dass er die Schiffstechnik im Dr. Dobbs Journal beschreiben konnte. Für den Bau bekam er eine Dozentur und durfte somit angehende Ingenieure darin ausbilden, wie man knifflige Probleme löst. Gesteuert wurden die Schiffchen mit einer graphischen Oberfläche, die auf einem Apple Newton lief. Das war jedenfalls der ursprüngliche Plan, denn Apple war diesmal der Sponsor dieser Mikrochips. Dass der Newton 1998 bei Apple über Bord geworfen wurde, war halt Bastlerpech.

Auf die Mini-Trimarane folgte ein richtiges Segelschiff, die Nomadeness, mit dem unschätzbaren Vorteil, endlich ein ordentliches e-Piano an Bord zu haben. Bis dahin hatte Roberts für seine Musik nur Flöten im Gepäck. Auch die Nomadness wurde rundum umgebaut und wieder umgebaut und war am Ende eine Art Hackerspace unter Segeln. Schließlich siegte die Zeit gegen den unentwegten Tüftler und begeisterten Segler Ü60: Steven Roberts musste sich mitsamt Katze auf die dunkle Seite der Macht begeben und schaffte sich ein Motorboot an.

Natürlich nicht, ohne neue Projekte zu verfolgen wie dem eines videoüberwachten Katzenklos, frei nach dem bekannten Spruch: Dem nerdigen Ingenieur ist nichts zu schwör.

(mawi)