Zensurwörter Chinas erforscht
Die chinesische Internetzensur ist stets im Fluss. Chinesische User müssen kreativ sein, um mit ihren Online-Postings für den Augenblick der Zensur auszuweichen. Das bedingt, dass Nicht-Eingeweihte oft nicht mehr verstehen, was gemeint ist.
Die chinesische Internetzensur ist stets im Fluss. Laufend werden neue Begriffe gesperrt, andere wieder freigegeben und manche erneut gesperrt. Chinesische User müssen kreativ sein, um mit ihren Online-Postings für den Augenblick der Zensur auszuweichen. Das bedingt, dass Nicht-Eingeweihte oft nicht mehr verstehen, was gemeint ist. Der an der Universität von Toronto tätige Jason Q. Ng hat nun mit einem systematischen Ansatz versucht, einen Schnappschuss der chinesischen Online-Zensur zu erstellen. In einem neuen Buch erläutert er die Hintergründe für 150 zensierte Begriffe.
Ng nahm 700.000 Lemmata der chinesischsprachigen Wikipedia und stellte mit Scripts entsprechende Suchanfragen bei Sina Weibo. Nach knapp zwei Monaten hatte er über 1.500 einzelne Begriffe ausgemacht, die gesperrt sind. Manches darf von Amts wegen nicht sein, anders wird offenbar in vorauseilendem Gehorsam von Sina Weibo selbst unterdrückt.
150 Beispiele hat Ng für sein Buch "Blocked on Weibo: What Gets Suppressed on China's Version of Twitter (And Why)" (etwa: "Gesperrt auf Weibo: Was auf Chinas Version von Twitter unterdrückt wird (und warum)") ausgesucht. Es ist Ende August bei The New Press in englischer Sprache erschienen.
In seinem Blog nennt er einige Beispiele, gibt an, wann er sie zensiert vorgefunden hat und wann nicht mehr, und was der Hintergrund für den Eingriff sein dürfte. Nicht immer gibt es politische Zusammenhänge, auch sexuell konnotierte Ausdrücke oder Bezugnahmen auf Kriminalität sind heikel. Für Außenstehende ist oft unerklärlich, warum eine Zeichenfolge auf dem Index landet: "Victoria", "leerer Stuhl" oder "reiche Frau"?
Hier helfen Ngs Erklärungen: Victoria bezieht sich, so erläutert der Forscher, auf einen Park in Hongkong, wo an jedem 4. Juni dem Pekinger Massaker von 1989 gedacht wird. In traditioneller Chinesischen Schrift ist "Victoria" übrigens zulässig, in vereinfachter Schrift aber nicht. "Ein klares Zeichen dafür, dass die Sperre auf Hongkonger und den Victoria Park in Hongkong abzielt", meint Ng.
Der "leere Stuhl" ist ein Codewort für den politischen Gefangenen Liu Xiaobo. 2010 erhielt er den Friedensnobelpreis, konnte ihn aber nicht entgegennehmen. Als Symbol wurden Medaille und Urkunde in Oslo damals auf einen leeren Stuhl gestellt. Im Oktober 2012 konnte man auf Weibo wieder über leere Stühle zwitschern. Auch "reiche Frau" wurde Ende 2012 wieder freigegeben. Die Volkswut über die Gattinnen, Mätressen und Töchter obszön reicher Geschäftsleute, Beamte und Leiter wohltätiger Organisationen dürfte sich abgekühlt haben.
Ng ist Google Policy Fellow am Citizenlab der Universität von Toronto in Kanada. Die Erkundung der chinesischen Zensur "ist nur eine kleine lustige Herausforderung für mich", schreibt Ng in seinem Blog, "Ich dachte mir, die Leute wollen erfahren, was in China als sensibel aufgefasst wird." Eine Agenda will er sich nicht unterstellen lassen. "Wenn überhaupt, hoffe ich, dass diese Seite die Findigkeit und Unverwüstlichkeit der chinesischen Netizens, wie auch das Verantwortungsbewusstsein der chinesischen Leiter (in der Regierung und in privaten Organisationen) beim Voranführen des Landes unter Beweis stellt." Der Versuch eines merkwürdigen Spagats.
Auch andere versuchen, die Einschränkung der veröffentlichten Meinung in der Volksrepublik zu dokumentieren. Greatfire beispielsweise erfasst seit 2011 Webseiten und Stichworte, die in China nicht funktionieren. Die in Kalifornien herausgegebene China Digital Times katalogisiert entsprechende Begriffe aus ihrer eigenen Berichterstattung, wenn sie Zensur auslösen. Ngs Buch ist keineswegs umfassend, verschafft dem westlichen Leser aber Einblicke, die lange Wortlisten nicht bieten können. (jk)