re:publica: "KI-Entwicklung kommt ohne neurodivergente Personen nicht weiter"

Künstliche Intelligenz kann neurodivergenten Menschen im Alltag helfen. Zugleich setzt der Professor André Frank Zimpel auf der re:publica alle Hoffnung in sie.

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Ein Mädchen in Uniform sitzt am Rechner, umgeben von Symbolen für verschiedene Informationen

KI kann neurodivergente Menschen im Alltag unterstützen. Zugleich sprengen sie das Mittelmaß – eine Hoffnung, hieß es auf der re:publica.

(Bild: Shutterstock/metamorworks)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Ulrike Heitmüller
Inhaltsverzeichnis

Wenn André Frank Zimpel, sagen wir, 60 durch 4 teilen will, dann sieht er vor sich, wie eine graue "60" auf eine grüne "4" trifft und dabei die 60 in eine hellgrüne 40 und eine goldene 20 zerfällt. Dann zerfällt die 40 wiederum in eine fast durchsichtige 10, und die goldene 20 zerfällt in eine blaue 5; und beides ergibt eine hellblaue 15. Zimpel ist Synästhetiker und somit neurodivergent.

Er ist außerdem Psychologe und lehrt als Professor an der Universität Hamburg mit dem Schwerpunkt "Lernen und Entwicklung". Bei der diesjährigen re:publica hielt er einen Vortrag über "KI und Neurodiversität".

Zimpel sprach über Neurodiversität im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI) besonders unter zwei Aspekten: Einerseits bedeute KI die Möglichkeit, neurodivergente Menschen zu unterstützen. Andererseits brauche es neurodivergente Menschen, um KI überhaupt zu entwickeln.

In unserer (westlichen) Kultur gibt es einen Intelligenzkult. In anderen, so Zimpel, gehe es beispielsweise um Ehre. Will man da jemanden beleidigen, beschimpft man dessen Mutter; bei "uns" dagegen nennt man ihn vielleicht einen "Dummkopf".

Und da kann KI schon ein gewisses Unbehagen erzeugen: Wenn die nämlich "klüger" ist als man selbst, ist man leicht einmal gekränkt. Eventuell aber müsse man die Geschichte der menschlichen Intelligenz neu erzählen, sagt er: Lassen wir uns von der KI kränken oder lernen wir von ihr?

So habe ChatGPT bei einem IQ-Test mit einem IQ von 155 abgeschnitten – besser als 99,9 Prozent der menschlichen Teilnehmer. Allerdings gab es auch ein paar lustige Fehler, und mit dem logischen Denken hat es auch nicht immer so gut geklappt, berichtet Eka Rovainen, der klinische Psychologe, der den Versuch durchgeführt hatte.

Der Professor hatte etwas Ähnliches auch selbst erlebt: Er wollte einen Rap schreiben und benötigte Monate. (Er trug ihn vor und bekam prompt Szenenapplaus.) Dann aber zeigte ihm seine Tochter eine App, mit der er keine Minute gebraucht hätte. Das war ein bisschen kränkend, gab er zu, aber KI könne doch nützlich sein.

Im Neurodiversitäts-Spektrum finden sich beispielsweise Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, AD(H)S, Dyskalkulie (Rechenschwäche), Legasthenie (Lese-Rechtschreibschwäche), Dyspraxie (motorische Störungen), Epilepsie oder Tourette-Syndrom. Sie fühlen, denken und handeln anders als üblich ist – genauer: als üblicherweise, also durch die gesellschaftliche Norm, erwartet wird. Das bedeute zwar keinesfalls, dass diese nicht vollkommen richtig im Kopf wären, aber manche Fähigkeiten können im Alltag entscheidend sein. Und da kann eine KI helfen.

Zimpel nennt eine ganze Reihe von Beispielen für solch eine Unterstützung. Das fängt ganz banal an mit der Rechtschreibkorrektur von Word für Menschen mit Legasthenie. Er berichtet auch von seiner Arbeit mit Leuten aus dem Autismus-Spektrum. "Die nehmen so viel wahr, dass sie nicht merken, dass Worte, die wir als gleich empfinden, gleich sind." Wenn man beispielsweise zweimal das Wort "Auto" ausspricht, dann klingt es je etwas anders. Für den Durchschnittsmenschen kein Problem, aber ein autistisches Kind versteht die Unterschiede nicht. "Solche Kinder brauchen Jahre, bis sie sprechen lernen", sagte er. Oft lernten sie es erst mit sechs Jahren – "aber dann sprechen sie oft gleich in ganzen Sätzen". Weil sie nämlich das System "geknackt"" haben; Zimpel führte das Beispiel eines geistig behinderten Mannes an, der erst lange nicht sprechen konnte, als Erwachsener dann aber sieben Sprachen beherrschte. Die Technik könne bei dem Problem mit der Aussprache helfen, indem man einen Computer das Wort "Auto" sagen lasse – da klingt es immer gleich.

Aber: Künstliche Intelligenz "arbeitet mit rekombinierter Durchschnittsbildung. Je leistungsfähiger KI wird, desto besser wird sie darin werden, den Durchschnitt zum Maßstab zu erheben." Und dieses "Mittelmaß" sei ein "großes Problem", so Zimpel. Seine einzige Hoffnung sind neurodivergente Menschen, die sich dem entziehen. Darum sieht er eine große Zukunft für diese Personen.

In den USA etwa habe man inzwischen festgestellt, dass man in der KI-Entwicklung ohne Neurodivergente nicht weiterkomme. Auch in Europa, sagte Zimpel: In Städten, wo IT sich ansiedelt, seien doppelt so viele Schulkinder im Autismus-Spektrum wie anderswo. Wahrscheinlich auch ihre Eltern – und die entwickelten IT.

Im Jahr 2011 fand das National Symposium on Neurodiversity at Syracuse University statt. Dort habe sich die Neurodiversitätsbewegung gebildet, als Zusammenschluss von Menschen mit vielen Formen, die als "Neurodivergenz" betrachtet werden. Zimpel hofft, dass diese Bewegung "eine ähnliche Power entwickeln könnte wie 'Black is beautiful', 'Gay is good' und 'Sisterhood is powerful' in den 1960er- und 70er-Jahren." Sie könnte dazu beitragen, die Gesellschaft zu verbessern.

(are)