Hintergrund: Immer mehr Friedhöfe im Internet

Seit Mitte der neunziger Jahre die ersten virtuellen Friedhöfe im Internet eingerichtet wurden, ist ihre Zahl auf rund hundert angewachsen.

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Von
  • Rudolf Grimm
  • dpa

Die moderne Technik hat auch dem Totengedenken eine neue Dimension gegeben. Wer mag, kann im Internet eine virtuelle Grabstätte für einen Verstorbenen einrichten. Und wer auch immer mag in der weiten Welt, kann sie besuchen. Kann damit in einer Zeit, von der es oft heißt, Tod und Sterben werde immer mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verdrängt, das Totengedenken neue Substanz und Vertiefung gewinnen? Eine eindeutige Antwort erscheint bei näherer Betrachtung des Phänomens kaum möglich.

Seit Mitte der neunziger Jahre die ersten virtuellen Friedhöfe im Internet eingerichtet wurden, ist ihre Zahl auf rund hundert angewachsen. Die der "Besucher" ist kaum schätzbar, dürfte aber bei mindestens vielen hunderttausend liegen. Die Elektronik-Grabfelder bestehen aus großen Datenbanken, die jeweils einige wenige bis mehrere tausend Nachrufe auf verstorbene Personen enthalten, so genannte Memorials.

Nach dem Selbstmord des 22 Jahre alten Andrew Kevan Shreeves klagt seine Schwester: "Ich weiß nicht, warum du Suizid begingst, Andrew. Du nahmst die Antwort auf diese Frage mit ins Grab... Ich wünsche, dass ich die Uhr zurückdrehen und Dinge ändern könnte, aber ich kann nicht". In einem anderen Memorial beschreibt eine ehemalige Lebensgefährtin des 32-jährig verstorbenen, Witwe und zwei Kinder hinterlassenden Patrick McNeil Gentry ihre einstige Beziehung: "Ich liebte ihn sehr, genug, um ihn frei zu geben und immer zu hoffen, er werde zurückkehren zu mir... Eines Tages, ich weiß es, werden wir wieder zusammen sein. Bis zu der Zeit lasst dieses Memorial stehen für meine nicht sterbende Liebe zu Patrick McNeil Gentry".

Diese Beispiele zitiert die Volkskundlerin Gudrun Schwibbe (Universität Göttingen), die zusammen mit ihrer Kollegin Ira Spieker den sozio-kulturellen Aspekt dieser neuen Form des Totenkults untersucht hat. Besonders das zweite Beispiel zeigt sehr deutlich, wie sehr sie die traditionellen Möglichkeiten übertrifft, sich zum Tod eines Menschen zu äußern. Sie gibt der Öffentlichmachung von Gedanken Raum, für die sonst weder in Todesanzeigen noch bei Trauerfeiern und Begräbnissen Platz und Gelegenheit ist.

Neben der Funktion der Selbstdarstellung und -aufwertung scheinen die Memorials aber auch Bedürfnisse nach Zuspruch zu erfüllen, denen im näheren Umfeld kaum so entsprochen werden kann. Ein einrucksvolles Beispiel hierfür gibt die umfangreiche, mit Musik und Bildern unterlegte virtuelle Grabstätte, die eine Mutter für ihre im Alter von elf Jahren verstorbene Tochter einrichtete. Hier werden auch die Lebens- und Krankheitsgeschichte geschildert, Einblicke in das Familienleben gegeben, der Freundeskreis der kleinen Carol vorgestellt. In einem "Gästebuch" können Fremde Gedanken und Eindrücke äußern. Zusätzlich werden fortlaufend Seiten eines Tagebuchs der Mutter in eine Home Page gestellt, die Lesern Auskunft geben über die verschiedenen Phasen der Trauerbewältigung.

Wie die Göttinger Volkskundlerin im Gespräch mit dpa erwähnte, wird in Memorials gelegentlich auch Kritik an Verstorbenen geäußert, von Dingen gesprochen, die sonst beim Tode gewöhnlich verschwiegen werden. Freunde verweisen manchmal auf ebenfalls meist ungenannt bleibende Besonderheiten, wie zum Beispiel Aids als Todesursache. Indessen finden sich kaum Belege für die Existenz ironisch gemeinter, herabwürdigender oder eindeutig verachtender Nachrufe.

Solche Plätze im Cyberspace sind oft auch Gegenstand eines bloß konsumhaft-voyeuristischen Interesses. Auch können Besucher unabhängig von möglichen Erwartungen der Trauernden sich etwa einer angebahnten sozialen Beziehung jederzeit entziehen. Das Medium verleitet zu abstrakt-distanzierter Pseudogemeinschaft. Der hierzu befragte Friedhofspfarrer einer deutschen Großstadt glaubt, dass die Begegnung mit Memorials im Internet etwas ganz Unterschiedliches bewirken und vermitteln kann. "Es kommt auf das Niveau des Menschen an", sagte Pfarrer Hans-Christian Weppler (Hamburg). Er erlebt bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit bei Trauerfeiern und Begräbnisses, dass auch hier manchen Anwesenden das rechte Bewusstsein und der angemessene Stil angesichts des Todes eines Menschen fehlen. Jedenfalls sieht er in dem neuen Medium durchaus eine "Chance für den Einzelnen".

Vielleicht ist für viele Menschen mit den Memorials im Cyberspace auch ein neues Verständnis von Jenseitigkeit und Unendlichkeit verbunden. Wie Gudrun Schwibbe bemerkte, knüpft es an das bestehende traditionelle Verständnis an, dass ein essenzieller Teil der Persönlichkeit in einem anderen, transformierten Zustand oder an einem anderen Ort - etwa im Himmel - weiterhin Bestand hat. Es operiert also auf zweifache Weise mit dem Begriff der Transzendenz. "So manifestiert sich auch in den virtuellen Friedhöfen die für die westliche Welt zu konstatierende Ambivalenz des Bewusstseins von Sterblichkeit und Unsterblichkeit". (Rudolf Grimm, dpa) ()