Missing Link: Der Schöne und die Influencerin - von KI, virtuellen Models, Schönheitswahn und Mode

Auf der Liste der durch Künstliche Intelligenz am meisten bedrohten Berufe stehen auch Models ganz oben. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?

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Missing Link: Der Schöne und die Influencerin - von KI, virtuellen Models, Schönheitswahn und Mode

(Bild: Subbotina Anna / shutterstock.com)

Lesezeit: 27 Min.
Von
  • Valerie Lux
Inhaltsverzeichnis

Es gibt da eine Szene aus einem Werbefilm für einen Gillette-Damenrasierer. Sie stammt aus dem Jahr 2016, der elften Staffel von "Germanys Next Top Model". Fata Hasanovic, ein 21-jähriges, sehr dünnes Mädchen sitzt in einem Kamerastudio vor einem grünen Hintergrund. Sie wirft einen silbernen Ball auf und ab. Mehrere Kamerageräte kreisen um sie herum, Stative und Reflektoren sind aufgestellt, Scheinwerfer sind auf sie gerichtet. Während der Aufnahme stehen mindestens zwanzig andere Menschen um das das Set herum, Beleuchter*innen Tontechniker*innen, Kamerafrauen und Make-Up-Artisten, Regisseure und Digitaltechniker.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Ein, zwei, drei, hunderte Male muss die gebürtige Bosnierin nach Vorgabe der Regisseurin den kleinen Ball in die Luft werfen, der daraufhin über ihre haarlosen Beine rollt. "Ein Fotoshooting ist ein Job, der sehr viel Präzision und Konzentration erfordert", erklärt Marketingleiter Patrick Karcher den unbedarften Zuschauern. "Ein Model muss sehr oft die gleiche Bewegung hintereinander machen, bis wir die perfekte Position finden. Dafür brauchen wir ein Model wie Fata, die sehr geduldig und konzentriert für mehrere Stunden sein kann." Nach der Aufnahme kommt das Video noch zur digitalen Bearbeitung. Im fertigen Werbespot sehen Hasanovics Beine aus wie zwei hautfarbene Eisstiele.

Szene mit Fata Hasanovic aus Germanys Next Topmodel 2016

(Bild: Germanys Next Topmodel )

Ihre Kollegin, das Topmodel Shudu Gram ist eine junge Frau aus Afrika. Sie hat einen Schmollmund, kurze schwarze Haare und hohe Wangenknochen. Man könnte sie, wie Hasanovic, für ein normales Model ihrer Zunft halten. Auf ihrem Instagram-Account präsentiert sie sich mit goldfunkelnden Ohrringen, die einen scharfen Kontrast zu ihrem schwarzen Gesicht mit den dunklen Katzenaugen bilden. Ihre Lippen glänzen feucht, das Licht, dass auf ihre Wangenknochen fällt, zeigt die Poren ihrer Haut.

Shudu Gram auf Instagram

(Bild: Instagram )

Auf einem Foto, auf dem sie ein gelbes T-Shirt trägt, bedankt sie sich für das Geschenk bei anderen Nutzern. Hier wirkt sie gar nicht wie ein Model, sondern verschüchtert, als wisse sie bei dem Schnappschuss nicht wohin mit ihren Armen.

Nur ein Detail unterscheidet Shudu Gram von Fata Hasanovic: Das schwarze Model mit den mandelförmigen Augen wurde vollständig durch einen Computer hergestellt. Vergleicht man die Bewegung des Körpers von Shudu Gram auf ihren Instagram-Videos und den fertigen Werbespot von Hasanovic, so bewegen sich beide wie echte Menschen. Kein Unterschied ist erkennbar. Shudu Gram wurde vom britischen Fotograph Cameron James Wilson entworfen.

Shudu Gram auf Instagram

(Bild: Instagram )

Während für die simple Bewegung von Hasanovics Beinen noch kostspieliges Kameraequipment und dutzende Assistenten notwendig sind, braucht Shudu noch nicht einmal eine Kamera. In dem 3D-Softwareprogramm "Clo 3D" werden die Maße eines Kleidungsstücks von Wilson eingegeben. Während Hasanovics realer Körper vor dem Green Screen Verrenkungen anstellt, damit später per Photoshop "Sandstrand" unter ihre glatten Beine hinzugefügt werden kann, klickt Wilson einfach auf dem Hintergrund "Wüste" in seinem Programm. Und schon läuft Shudu Gram elegant über tausende von Sandkörnern eine Wüstendüne herunter. Ganz ohne Green-Screen-Techniker.

Braucht die Modeindustrie mit ihren irrealen, illusionären Fotos von lächelnden Menschen, deren Gesichter, akribisch retuschiert, einem von Werbeprospekten entgegenleuchten, überhaupt noch das Abbild eines echten Menschen? Seit der Geburt von Shudu Gram im Jahr 2017 lautet die Antwort: Nein. Das digitale Supermodel hat auf Instagram 150.000 Follower, obwohl bislang nur einige wenige Bilder und ein paar Videos von ihr veröffentlicht wurden.

Die Nachbearbeitung von Werbefotos für Zeitschriften oder Werbevideos für das Fernsehen dreht sich nur um ein Ziel: Die körperlichen Unreinheiten des Models wegzuretuschieren. Ein Pickel auf dem Dekolleté, Lachfalten um die Augen, eine graue Strähne im Haar, all diese menschlichen Eigenschaften fallen ausgebildeten Photoshop-Designern zum Opfer. Bei der Rasiererwerbung sehen Hasanovics Eisstiel-Beine makellos aus – keine Poren, keine Venen, keine Gänsehaut, keine Falten. Sie wirken unnatürlich glatt und rein.

Es wird der Zielgruppe Frauen suggeriert, Perfektion sei ein mögliches Ziel. Und ein erstrebenswertes Ziel. "Auf eine Art hat mir Shudu mehr über natürliche Schönheit beigebracht, weil ich sie realistisch kreieren wollte. Und deswegen musste ich die ganzen menschlichen Eigenschaften wieder hinzufügen, wobei ich eigentlich gelehrt wurde, die nach einem Fotoshootings mit einem echten Model durch Photoshop zu eliminieren", sagt Wilson.

"In der 3D-Bildbearbeitung ist es genau andersherum: Ich füge die menschlichen Makel extra hinzu, damit das digitale Model möglichst echt aussieht", erklärt er in seinem Studio in London. Das sind beispielsweise rote Augen, die eine Person müde aussehen lassen und normalerweise aufgehellt werden. Bei Shudu Gram bleiben die roten Äderchen in ihrem Augenweiß bestehen. "Auf eine Art und Weise hat mich Shudu Gram von der obsessiven Perfektion der Modeindustrie befreit", erzählt der Fotograph.

Shudu Gram – eine Frau mit den Merkmalen echter Menschen wie den feinen Äderchen und Zellstrukturen auf ihrer Haut. Doch Gram ist immer noch so dünn wie ein im Wind raschelndes Schilfrohr. Auch ihr ebenso berühmtes Pendant Lil Miquela, ein animiertes, sehr dünnes Model, das auf Instagram für Prada Werbung macht, wird von ihren Designern in jeder denkbaren Position positioniert, sodass ihr knochig-flacher Bauch hinter der Designerkleidung hervorblitzt. Lil Miquela kann man auf Instagram dabei zusehen, wie sie Salat isst und einen Kinofilm schaut; wie und sie poetisch ihren Followern wünscht, "dass die Flügel des schwarzen Eyeliners für immer auf eurer Haut haften mögen".

Digitales Model Lil Miquela

(Bild: Instagram )

Sind diese digitalen Models nur die logische Weiterentwicklung der omnipräsenten Werbeanzeigen, im Bus, in der Bahn, auf Litfaßsäulen im öffentlichen Raum, die stets nur das knochige Schönheitsideal einer makellosen weißen Frau und durchtrainierten Männern zeigen? Sind digitale Models die Antwort auf den immergleichen Druck, besser und schöner auszusehen – bis "besser und schöner" eben nur noch in 3D geht?

Animiertes 19-jähriges Model Lil Miquela

(Bild: Instagram )

In der Zukunft könnten Designer beispielsweise ihre neu entworfenen Kleider an die Software-Entwickler im Haus geben, diese platzieren die Kleider dann auf die hauseigenen 3D-Avatare, und die zuständigen Social-Media-Manager posten die Bilder auf allen sozialen Kanälen. Das "echte" Model wurde dabei einfach übergangen. Ihr Beruf? Passé.

Die berühmte $Oxford-Studie von Frey und Osborne aus dem Jahr 2013 bewertet Model als einen der Berufe, deren Aufgaben bald vollständig von der Künstlichen Intelligenz übernommen werden könnten. Der Beruf Model rangiert im Ranking auf Platz 669, die Plätze davor sind denen vergeben, deren Aufgaben nicht in Bälde von Computern übernommen werden können – z.B. Sozialarbeiter oder Psychologen.

Bleibt für Models nur noch der Laufsteg. Doch auch hier ist die Technik schon schneller. Die ersten Hologramme von Topmodeln liefen schon Anfang der 2000er Jahre über den Laufsteg. Bislang sind es jedoch nur Kopien von "echten" Models. Da ist zum Beispiel das Hologramm von Kate Moss, die mit flackerndem blauem Kleid den Designer Alexander McQueen nach seinem Selbstmord ehrte. Das Publikum beklatschte den blauen Moss-Geist mit dem gleichen Enthusiasmus auf der Queen Fashion Show wie den Auftritt der echten Laufstegmodels.

Ralph Lauren zog nach: Der Designer ließ während der New York Fashion Week seine holographischen Models 2016 über den See des Central Parks laufen – den Besuchern gefiel es: Die Hologramme, die auf dem künstlichen Catwalk entlang staksten, blickten auf ein Meer von Smartphone-Kameras herab. Den Vogel schoss der Modeschöpfer selbst ab: Als er 2018 den Preis für sein Lebenswerk von der Männerzeitschrift GQ erhielt, beamte er sich bei der Dankesrede auf die Bühne. "Sorry, dass ich nicht hier sein kann", sagte das Ralph-Lauren-Hologramm und drehte verlegen die goldene GQ-Skulptur in den Händen.

Rede bei den GQ-Awards mit dem Hologramm von Ralph Lauren

(Bild: GQ )

Ist die Entstehung der Hologramm-Models ein Untergangsmerkmal für alle Laufstegmodels, genauso wie digitale Supermodels den schwindenden Einfluss realer Influencer einläuten? Noch nicht. Es bleibt festzuhalten, dass diese virtuellen Charaktere noch nicht im Mainstream angekommen sind. Laufsteg-Hologramme leistet sich nur, wer herausstechen möchte aus dem immergleichen Zirkus der Kleiderstangenmaschierer.

Eine weitere Variante der Hologramm-Mode zeigt die niederländische Designerin Slooten. Eine durchaus beeindruckende Show hätte die Amsterdam Fashion Week 2016 werden können. Eine echte Frau im hautfarbenen Body tanzte hinter einem durchsichtigen Vorhang, auf dem ein üppiges Kleid gebeamt worden war. Der Eindruck sollte entstehen, dass das Kleid tatsächlich an ihrem Körper hing.

Ähnlich wie der Erschaffer des schwarzen Topmodels Shudu Gram, der explizit menschliche "Makel" in den Körper seiner Figur mit einbaut, nutzte auch die Niederländerin Amber Slooten den virtuellen Raum, um auf die Schönheit des physisch Realität zu verweisen: Ihre Hologrammkleider waren mit sich selbst bewegenden Tieraugen und -mäulern versehen, die die Seele jedes Gegenstandes um uns herum repräsentierten sollten, inspiriert von der der spirituellen Theorie des Animismus. Es scheint, dass virtuelle Designer die verborgenen Facetten der Realität entlarven.

Doch blamabler Weise ließ die Technik bei der Aufführung des Tiermaul-Kleides zu wünschen übrig: Das Kleid drehte sich verzögert mit seiner Trägerin hinter dem durchsichtigen Vorhang mit, das Model führte ihre Tanzbewegungen stets eine entscheidende Sekunde zu schnell aus. Eine asynchrone Choreographie, bei der nichts zusammenpasste, weder das Kleid mit dem Model, noch das Model mit dem Kleid. Gutwillige Beobachter erhielten den Eindruck, dass Tiermäulergewand führe ein störrisches Eigenleben.

"In Zukunft werden wir uns trotzdem nur noch mit virtuellen Hologrammen anziehen", sagte Designerin Slooten unbekümmert nach der Show.

Nicht ganz synchron: Das Tieraugen-Kleid auf Hologramm Show während der Fashion Week Amsterdam

(Bild: Vimeo )

Doch vermutlich wäre spätestens beim ersten Händeschütteln die Illusion des Hologramm-Kleides dahin – denn die Faszination der Holographie bleibt nur in einem bestimmten Winkel und Abstand eines Standorts bestehen. Auf der Fashion Week mussten dafür mehrere exakt justierte Plastikplanen herhalten, die um 45 Grad geneigt waren, um den Blick der Betrachterin ansatzweise glauben zu lassen, das Model hinter der Plastikplane trage tatsächlich ein Kleid.

Dennoch birgt Slootens Vision eine nicht zu unterschätzende Gleichheit: Wenn jeder ein Hologramm tragen würde, hätte sich die Klassenzugehörigkeit aufgrund offensiven Zurschaustellens teurer Luxusmarken erübrigt. Wäre die Kleidung nur virtuell vorhanden, stände den Nutzern ein unendlich großer Kleiderschrank mit Herstellungskosten gegen Null zur Verfügung. Vom Brautkleid bis zur Latzhose, von dem Gucci-Täschchen bis zum Nadelstreifenanzug, alles nur einen Wisch entfernt.

Hologramm-Mode in der Praxis des öffentlichen Raumes wie Parks oder Straßenzügen umzusetzen, ist aufgrund der exakten Winkelanforderungen kaum möglich. Dennoch muss man Slooten für den Ansatz danken, eine gesellschaftliche Theorie der modischen Gleichberechtigung skizziert zu haben.

Ein vollständig virtuelle Shoppingtour mit Hologramm-Mode würde einem keine Kleider unterjubeln, die nur der Schaufensterpuppe stehen. Doch was bringt die Digitalisierung den tatsächlichen Käufern von Kleidung? The next big thing in der Modebranche müssten personalisierte Avatare werden.

Das bedeutet, jeder besitzt ein digitales Abbild mit den exakten Kleidermaßen, mit dem er oder sie durch das Internet surft. Wer online Kleidung kaufen möchte, kann den Avatar mit der korrekten Schuhgröße und dem exakten Bauchumfang auf der Webseite eines Modeunternehmens preisgeben. Anstatt Kleidung mit vorgegebenen Standardgrößen S, M oder XL seinem Einkaufswagen hinzuzufügen, kann man an der 3D-Figur sofort sehen, ob das ausgewählte Hemd zu eng um den Bauch spannt.

"Wer ernsthaft an höheren Gewinnen interessiert ist, müsste diese Entwicklung zum Eigen-Avatar begrüßen. Es ist für Einzelhändler sehr kostenintensiv und aufwendig, Models in jeder Größe in den jeweiligen Kleidern zu fotografieren", sagt Julia Dietmar gegenüber heise online. Dietmar ist Chief Product Officer des Mode-Start-Ups Vue.ai im Silicon Valley. "Außerdem kaufen Kunden viel eher ein Kleiderstück, wenn sie es einmal vorher an einer Person in ihrer Größe gesehen haben", erklärt Produktleiterin Dietmar.

Julia Dietmar, eine zierliche Amerikanerin mit kurzen dunklen Haaren, verheiratet mit einem Deutschen, ist angetreten, die Modeindustrie umzukrempeln. Denn die Produktionsprozesse der Branche werden weltweit durch die Anwendung effizienter Bildbearbeitungssoftware aus großen Datenmengen verändert. Künstliche Intelligenz macht auch vor der Modewelt nicht halt: Dietmars Unternehmen Vue.ai beispielsweise hilft Einzelhänderinnen, automatisch Rüschenkleider, Unterhosen oder Highheels mit Metadaten zu versehen.

Julia Dietmar in ihrem Büro in San Francisco

(Bild: Julia Dietmar)

Ihre eigens entwickelte KI-Software scannt automatisch das Foto eines roten Seidenkleides und versieht es mit den Namensetiketten "Kleid", "rot" und "Seide". Wenn ein Kunde diese Begriffe in die Suchmaske eingibt, wird ihm sofort dieses Kleid angezeigt. Das ersetzt die händische Arbeit innerhalb von Textilunternehmen, bei dem Mitarbeiter noch mühsam die Farb- und Stoffeigenschaften jedes einzelnes Kleidungsstück in die Datenbank eintippen müssen.

Doch das Modebusiness steht mit dem Labeling und Trainieren von Daten für KI noch ganz am Anfang. "Die ganzen Textilhersteller verlieren einen so hohen Prozentsatz an Umsatz, aus dem einfachen Grund, weil sie bislang noch keine Daten zu ihren Stoffobjekten generiert haben", sagt Dietmar. Obwohl ihr Start-Up Vue.Ai erst vor drei Jahren gegründet wurde, wurde die KI-Software bereits an die großen Marken Levis und Diesel verkauft, mit deutschen Onlineversandhändlern laufen erste Verkaufsgespräche.

"Doch zu 100 Prozent läuft natürlich auch hier noch nicht alles glatt, gerade bei Schmuck hat die Software noch Probleme, zu erkennen, welcher Stein das ist", meint Dietmar. Ein fataler Fehler, würde dem Kunden ein grüner Plastikstein angezeigt werden, wenn er eigentlich einen grüner Opalring suche, nur weil beide Steine dieselbe Farbe besitzen.

Ein Einzelhändler mit Onlinebestellfunktionen, der Vue.Ai einen Auftrag erteilt, kann den Ausgabenposten "Personalkosten für Model" vollständig aus seiner Bilanz streichen. "Unsere Kunden geben uns Fotos von ihren Kleiderstücken und wir kreieren für sie mit menschlichen Fotos aus unserer Datenbank ein virtuelles Model, dass dieses Kleidungsstück in allen Größen trägt", erklärt Dietmar. Meistens sieht man nur menschliche Arme und Beine in der erwünschten Kleidung, der Kopf ist auf dem Foto abgeschnitten.

Wenn dann ein Käufer mit Größe 56 auf der Webseite eines Textilunternehmens nach Hugo-Boss-Anzügen surft, werden ihm auch ausschließlich Katalogmodels mit Größe 56 angezeigt. Dass kein echtes Fotoshooting in Größe 56 stattgefunden habe, ließe sich auf dem Foto kaum erkennen, da es keinen Kopf des Models benötige.

"Auch andersherum ist die virtuelle Fotografie möglich, dann, wenn man doch ein menschliches Model als Vorlage präferiert", erzählt Dietmar. "Ein Textilhersteller gibt uns dann das Bild seines gewünschten Models, das darauf in einem hautfarbenen Body abgelichtet ist. Wir stecken dann seinen Körper in hunderte andere Kleidungsstücke dieses Einzelhändlers, von Hosen zu Pullovern und machen davon Fotos." Ein Arbeitsschritt, der die aufwendigen Ausgaben für Fotoshootings mit einem Schlag reduziert.

Screenshot eines Online-Modekatalogs

Aber warum bietet noch niemand an, mit seinem Eigen-Avatar online einzukaufen? Warum nicht gleich ein "Kundenerlebnis" – eine Customer Journey, wie es im Fachjargon heißt – kreieren, auf der jeder sich auf einer Shoppingwebseite mit seinem eigenen Gesicht in den verschiedenen Kleiderstücken von Badeanzügen, T-Shirts oder Jacketts entgegenlächelt? Niemand müsste mehr enttäuscht zuhause feststellen, dass der kanariengelbe Anzug doch nicht so zur bleichen Hautfarbe passte, sondern doch eher zu dem lateinamerikanischen Ronaldo-Typ, der vorhin auf der Webseite zu sehen war.

"Ich denke eigentlich gar nicht, dass ein Käufer sich vorher schon virtuell in dem Kleidungsstück sehen möchte", sagt Dietmar. "Denn der gesamte Prozess des Einkaufens wird doch von den Wünschen und Erwartung gesteuert. Wir kaufen das Kleidungsstück auch, weil wir die Erwartung der Schönheit mit ihm verbinden. Die Schönheit mit dem Model, das diesen Hugo-Boss-Anzug trägt. Die Sehnsucht, jemand anderes zu sein, wird die vollständige Personalisierung aller Werbeanzeigen für Kleidung verhindern. Shopping is driven by desires."

Verbinden wir mit Einkaufen die Erwartung von Schönheit, eine Erwartung, die im Konflikt mit der Realität steht? Die Model-Gesichter, die uns von den Plakaten oder im Internet unserer Shopping-Sehnsucht entgegenlächeln, sind schon lange nicht mehr real.

Die Erwartung von Schönheit ist vermutlich seit Beginn der medialen Modeinszenierung eine Illusion, unter der tagtäglich Millionen von Menschen leiden, wenn sie morgens in den Spiegel schauen und sich unbewusst mit den hunderten Bildern von schlanken und gepflegten Personen ohne Falten und Übergewicht vergleichen: den Personen, die viele Unternehmen abdrucken lassen, auf dem Kaffee-To-Go-Becher vom U-Bahn-Imbiss wie auf Auslagenfenstern des Supermarkts um die Ecke. Alles, um potentielle Passanten zu animieren, ebenso schön sein zu wollen und deswegen jenes Produkt zu kaufen, auf dem einen dieses glatte, freundliche Gesicht entgegenlächelt.

In den sozialen Netzwerken steht es um die Realität nicht besser. Auch die Filter, die Nutzer bei Selfies für Instagram anwenden, zeigen der Öffentlichkeit die farblichen Konturen einer Person, die so nicht existiert. Doch wenn man digitale Bilder nicht als real bezeichnet, wer ist dann real? Sind Menschen, die Botox nutzen, Silikon in ihren Po spritzen oder einfach nur ihre grauen Schläfen färben, ebenfalls keine "realen" Personen?

Digitale Supermodels wie Lil Miquela und Shudu Gram, Figuren, die uns auf ihrer Profilbeschreibung sofort mitteilen, dass sie nur virtuell existieren, sind vermutlich ihren Followern gegenüber ehrlicher als die Tausenden von "realen" Influencern, die stundenlang die Waschbrettbauch-Pose vor dem Spiegel üben, sich dann exakt so auf dem der Handtuch hinlegen und am Ende noch einen Filter über das Foto legen, damit die obere Teil der Schultermuskulatur auch ja nicht zu dunkel aussieht.

"Obwohl Shudu einige menschliche Imperfektionen besitzt, ist sie dennoch ein Topmodel. Deswegen ist sie nicht geeignet, unsere Wahrnehmung von Schönheit zu verändern", meint Product Officer Dietmar.

Nicht nur im Bereich von Onlineshopping wird experimentiert. Auch in analogen Ladengeschäften versucht man mit der Virtualität eine vernünftige Symbiose einzugehen. Bekleidungsgeschäfte von Reformation Clothing in den USA bieten einen Verkaufsraum, in dem jedes Kleiderstück exakt nur einmal am Kleiderständer hängt. Kunden gehen durch den Laden und wählen durch Barcodescanning mittels ihres Smartphones das Kleidungsstück aus, das sie anprobieren möchten. Öffnen Sie dann die Tür zu ihrer Umkleidekabine, finden sie dort alle ausgewählten Kleider in ihrer Größe bereits vor, die eine – menschliche – Angestellte durch eine Hintertür bereitgelegt hat.

Durch einen kleinen Touchscreen, der an der Umkleidekabine hängt, kann man durch verschiedene Optionen dem Händler dann mitteilen, warum man ein Kleidungsstück doch nicht kaufen will. Für Dietmar bietet Reformation Clothing eine Lösung der "Datenlosigkeit" der Modeindustrie. "Die große Herausforderung der analogen Geschäfte ist es, herauszufinden, warum jemand nicht kauft. Denn es existieren keine Daten darüber warum jemand etwas nicht kauft", sagt sie. "Kunden gehen mit neun Hosen in die Umkleidekabine und entscheiden sich für keine einzige. Warum? Waren sie zu groß oder zu klein, hat die Farbe oder der Stoff nicht gestimmt? Niemand [außer dem Kunden] weiß es."

Wenn Händler das Mysterium der Rationalität einer Einkaufstour durch einfache Touchscreens besser verstehen, wäre das so etwas wie der heilige Gral der Kleidungsindustrie.

Eine große Herausforderung für 3D-Designer ist das Anpassen der Kleidungsstücke an die Bewegung eines Körpers. Nicht wenige Mode-Start-Ups sind nur mit dem Ziel gegründet worden, das richtige Fallen der Kleidungsstücke bei menschlicher Bewegung exakt vorherzusagen. Dafür sind komplexe Berechnungen notwendig, da jeder Stoff eine andere Elastizität und Dichte besitzt. Ein weiter Sommerrock aus feinem Stoff dreht sich schneller im Luftzug der Umdrehung seiner Trägerin als ein enger Bleistiftrock. Wenn man sich hinsetzt, schlägt ein weiter Strickponcho andere Falten als ein enger Lacoste-Pullover.

Von jedem Kleidungsstück, das jemand virtuell anprobieren möchte, müssen deswegen alle Daten zur Stoffqualität in der Bewegung vorhanden sein. Und das scheint bislang die größte Herausforderung für die Modeindustrie: Auch nach intensiver Suche war keine einzige Online-Webseite einer Modemarke oder eines Einzelhandels zu finden, auf der man mit seinem Selbst-Avatar ein realistisches Bild seiner selbst mit genau dem Kleidungsstück erhält, das man kaufen möchte – wenn die Seite nicht gleich abstürzt, sieht die Kleidung an dem Avatar nicht wirklichkeitsgetreuer als eine Comicfigur aus.

Der indische E-Commerce Versandhändler Jabong experimentiert zwar mit Selbst-Avataren, doch dreht man den Avatar um sich selbst, um den neuen Rock von hinten zu begutachten, dreht sich dieser partout nicht mit und bleibt starr an der Figur kleben. Ein ansprechendes Einkaufserlebnis sieht anders aus.

Avatar-Screenshot von der Jabong-Webseite: Realistisches Abbild seiner Selbst?

(Bild: jabong.com)

Ob man sich in einem Kleidungsstück wohlfühlt, kann man in einer Umkleidekabine innerhalb von Sekunden entscheiden, mit ein wenig Drehen und Wenden vor dem Spiegel. Diesen kurzen analogen Schritt einer breiten Masse virtuell verfügbar zu machen, scheint bislang unmöglich.

Im Netz trifft man haufenweise auf 404-Fehler und nicht mehr funktionierende Webseiten von Start-Ups, die mit Avataren das Einkaufen personalisieren wollten. Vor ein paar Jahren wurden diese neuen Unternehmen gefeiert, doch schien noch kein einziges ihrer Gründer einen Bekleidungshersteller gefunden zu haben, der bereit war, die Stoffe jedes seiner Kleidungsstücke vollständig digitalisieren zu lassen. "Sämtliche Start-Ups in dem Bereich 'eigener Mode-Avatar' sind in den letzten Jahren insolvent gegangen", erzählt Dietmar in San Francisco.

Die Tatsache, dass viele Kleiderstücke in asiatischen oder afrikanischen Ländern produziert werden, in Werbekatalogen und auf Laufstegen aber überwiegend weiße junge Frauen und Männer als Models unterwegs sind, ist ein weiteres Paradoxon der Modebranche. Doch nicht etwa virtuelle Models und KIs für die Modebranche scheinen hier gegenzusteuern, im Gegenteil, diese fördern bei aller versuchter "Natürlichkeit" solche Tendenzen eher. Ausgerechnet über eine digitale Applikation, die oft wegen der Förderung absoluter Oberflächlichkeit gescholten wird, wird dem Rassismus der Kampf angesagt.

Es ist Instagram, das seinen Nutzern den größten Fortschritt bei Gleichberechtigung in der Mode ermöglicht. Eine Plattform, auf der jeder sich als Model präsentieren und Follower sammeln kann, ist für Zielgruppen, die von Modekonzernen oft marginalisiert werden, ein großer Gewinn.

Nyakim Gatwech auf Instagram

(Bild: Instagram )

Ein Kommentar mit über 40.000 "Gefällt mir"-Klicks: "Ein großes Dankeschön an meine herausragenden Follower, die nicht vergessen lassen, wie schön meine Hautfarbe ist." Das schreibt Nyakim Gatwech, ein schwarzes Model aus dem Südsüdan, das in New York arbeitet. Hat Instagram etwa dazu beigetragen, die unterrepräsentierten körperlichen Merkmale von Männern und Frauen stärker in der Öffentlichkeit zu präsentieren und adäquate Rollenbilder der Identifikation zu entwickeln?

Auch der Erfolg von sogenannten "kurvigen" Männer und Frauen lässt sich auf Instagram zurückführen. Als "Curvy Models" oder "Plus Size Models" bezeichnet die Mode-Industrie alle Menschen, unter deren Haut nicht bereits die gesamte Knochenstruktur zu erkennen ist. Alles, was kein Skelett ist, ist "curvy" – heißt also im Alltag: normal, heißt aber in der Modebranche: zu dick. Weit entfernt von den Designern, die den Modelagenturen die Größe eines Knochengerüsts für ihre Haute-Couture-Schauen vorgeben, und den Modelagenten, die den Druck zu hungern an ihre Klienten weitergeben, kann sich heute jede Frau und jeder Mann mit Modelambitionen eine veritable Followerzahl selbst aufbauen.

"Instagram hat mir geholfen, das Herz von anderen Menschen auch außerhalb meines Landes zu erreichen", sagt das italienische Curvy-Model Paola Torrente gegenüber heise online. Die eigenständige Suche nach ihrer Zielgruppe und die Unterstützung durch eine individuelle Community erwies sich als ihr Glücksgriff. "Instagram und andere soziale Medien hatten entscheidenden Einfluss auf meine Karriere", erklärt Torrente. "Denn die berühmten Modemarken geben uns kurvigen Models kaum Raum."

Paola Torrente auf Instagram

(Bild: Instagram )

Instagram ist für Torrente nicht nur ein Kanal, um ihren Körper zu zeigen, so wie er ist, sondern auch, um mit Nutzern aus aller Welt zu kommunizieren, die sich mit ihr identifizieren und um Rat bitten. "Letztendlich bin ich mir deswegen hundertprozentig sicher, dass ich von virtuellen Models wie Shudu Gram oder Lil Miquela nicht ersetzt werden kann", sagt Torrente. "So viele Menschen schreiben mir in privaten Nachrichten auf Instagram, dass sie von meiner Kraft und meinem Selbstbewusstsein, meinen Körper zu zeigen, inspiriert fühlen und sich deswegen ebenfalls selbstsicherer fühlen. Der direkte Kontakt zu mir als echter Mensch kann niemals von einem digitalen Supermodel geleistet werden."

Auch Torrentes männlicher Counterpart, der 26-jährige Zach Miko wurde vom Präsidenten der Modelagentur IMG Models direkt auf Instagram entdeckt. "Ich bin aufgewachsen, ohne auch nur eine Sekunde jemals in meinem Leben daran gedacht zu haben, mit meiner Größe Model werden zu können", betont der frühere Barkeeper Miko. Er konnte es nicht fassen, als er persönlich zum Casting eingeladen wurde. "Das größte Missverständnis ist zu glauben, dass Männer sich nicht trauen, über ihre Unsicherheit wegen ihres Körpers zu sprechen. Sie glauben, das wäre schwach."

Zach Miko auf Instagram

(Bild: Instagram )

Kann der Ableger des Facebook-Konzerns etwa als eine Art Kanal der außerparlamentarischen Opposition der Modeindustrie gesehen werde? "Viele denken unbewusst, was auch immer in den Medien ist, muss richtig und wahr sein. Deswegen ist es gerade in den sozialen Medien wichtig, so viel wie möglich ethnische Diversität zu zeigen. Wir glauben nur an das was wir sehen. Und wenn du deinen Körper nicht in den Medien widergespiegelt siehst, dann hast du keine Möglichkeit an dich selbst glauben", erklärt Clementine Dessaux. Die 29-Jährige ist ein oft gebuchtes, kurviges Model aus Frankreich. Dessaux, dunkle Haare, haselnussbraune Augen und ein lustiges Sommersprossengesicht, rief 2016 die Kampagne "Allwomxnproject" ins Leben und veröffentlichte Fotostrecken auf dem sie zusammen mit alten und jungen, weißen und schwarzen, dickeren und dünneren Frauen posiert.

Clementine Dessaux (links) auf einem Foto ihrer Kampagne Allwomxnproject

(Bild: Allvomxnproject)

Erst durch Instagram wurde man auf die Fotostrecken aufmerksam, die Kampagne wurde dann in der Vogue gezeigt, auch Nike engagierte die Frauen für eine Modestrecke. 50.000 Follower hat "Allwomxnproject" auf Instagram, einer der Hauptverbreitungskanäle für die Aktivitäten des Projekts.

Vermutlich es das genau der richtige Weg für jeden, der sich über das gängige Magerwahn und knochige Schönheitsideal beschwert: Selbst einen Instagram-Account eröffnen, sich mit allen menschlichen Makeln ablichten, das Foto online stellen und selbstbewusst sagen: Ich bin schön. Die Autorin hat es selbst gewagt und ein ehrliches Foto auf Instagram veröffentlicht, und ruft alle auf, dasselbe zu tun. Virtuelle Models hin, Künstliche Intelligenz her: Es ist nicht die Technik, die den Schönheitswahn der Modeindustrie aushebelt. (jk)