Missing Link: Smart City Moskau - WLAN satt, 200 digitale Verwaltungsdienste, 170.000 Kameras

Moskau als Vorreiter für Smart Cities? In der russischen Hauptstadt sind Ämter, Kliniken, Ärzte, Schulen und kommunaler Fuhrpark vernetzt, Videoüberwachung ist allgegenwärtig. Eine zentrale staatliche Datenbank für Bürger-Profile soll es aber nicht geben.

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Moskau

(Bild: Oliver Klein, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 10 Min.
Inhaltsverzeichnis

Über die mangelnde Nutzung von E-Government-Services kann sich die Moskauer Stadtverwaltung im Gegensatz zum Wehklagen in diesem Bereich in Deutschland nicht beschweren. Allein die kommunale App, über die aufmerksame Bürger Probleme wie kaputte Lampen, zerstörte Sitzbänke oder wilde Mülldeponien melden können, haben bereits rund eine Million Menschen benutzt und Hinweise auf 120.000 Objekte gegeben.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Für eine Abstimmungs-App haben sich über 1,6 Millionen Smartphone-Besitzer in der russischen Hauptstadt registrieren lassen und sich teils an den bislang über 2000 durchgeführten Fragerunden beteiligt. Dabei haben die mitwirkenden Moskauer etwa gegen ein zusätzliches Tempolimit im Stadtzentrum sowie für strengere Auflagen für Bautätigkeiten während der Nacht sowie engere Grenzen für den Verkauf alkoholartiger Energy Drinks gestimmt. Derlei mobile Formen der direkten Demokratie können auf bestimmte Bezirke oder sogar Straßen zugeschnitten werden. Die kommunale Verwaltung der 12-Millionen-Metropole hat zugesichert, einschlägige Entscheidungen auch tatsächlich umzusetzen.

Diese Zahlen rasselt nicht ohne Stolz Eldar Tuzmukhamedow, Leiter des Smart City Lab beim IT-Referat der Moskauer Stadtverwaltung, herunter. Offiziell gibt es ihm zufolge in der vor sich hin wuchernden Großstadt gar keinen Fahrplan hin zur intelligenten Kommune. Dem Namen nach handle es sich um eine zunächst bis 2016 vorgesehene und mittlerweile bis 2018 ausgeweitete Strategie, um Moskau in eine "Informationsstadt" zu verwandeln. Den Anstoß dazu habe Bürgermeister Sergei Sobjanin 2011 kurze Zeit nach seiner Amtseinführung im Zuge des Aufbaus der neuen IT-Abteilung gegeben. Vorher habe ein totaler Wildwuchs im Computerbereich geherrscht, jedes kommunale Amt oder jede Einrichtung wie Schulen hätten sich selbst ihre Rechnerausrüstungen besorgt. Von gemeinsamen Standards oder Interoperabilität sei damals keine Spur gewesen.

Das Moskauer IT-Referat zeigt sich recht stolz über die Netz-Versorgung in der Stadt

(Bild: IT-Referat Stadt Moskau)

Seitdem hat sich in punkto IT- und Netzinfrastruktur einiges getan. Potenzielle Vorurteile entfernter Beobachter, dass Moskau bei der Digitalisierung westlichen Kommunen um Jahre hinterherhinke, kann Tuzmukhamedow in Windeseile ausräumen.Insgesamt seien momentan gut 200 Dienste der Stadtverwaltung elektronisch über ein Webportal, zehn verschiedene mobile Apps oder spezielle SMS-Services verfügbar. Dabei handle es sich um 75 Prozent der generell existierenden Moskauer Verwaltungsangebote, berichtet in perfektem Englisch der Regierungsvertreter, der Öffentlichkeitsarbeit an der staatlichen Lomonossow-Universität studiert und seinen Master an der Kingston Universität in London gemacht hat.

So könnten die Bürger etwa Parkgebühren, Steuern oder Geldbußen online bezahlen oder auf gleichem Weg sich selbst beim Doktor oder ihre Kinder bei der Schule anmelden, erläutert der PR-Experte. Einen elektronischen Identitätsnachweis nebst digitaler Signatur zu erhalten sei kein Problem, einen Pass könne man aber in Russland noch nicht übers Netz beantragen: "Das ist eine Angelegenheit des Bundes." Das kommunale IT-Referat versuche zwar, die russische Regierung im Bereich E-Government ebenfalls zum Jagen zu tragen, die Uhren tickten im Kreml aber teils etwas langsamer. Es gebe allein in Moskau aber auch etwa 130 Verwaltungszentren vor Ort, in denen sich sämtliche regionalen und bundesweiten staatlichen Dienste beantragen ließen.

Eingeführt hat die Stadtverwaltung auch ein einheitliches System mit GPS und der russischen Alternative Glonass, um den Einsatz von rund 32.000 kommunaler Fahrzeuge wie Busse des öffentlichen Personennahverkehrs, der Straßenreinigung oder der Müllentsorgung zu kontrollieren. Damit werden etwa einzuhaltende Routen, die gefahrene Geschwindigkeit oder der Benzinverbrauch überwacht. Das "Internet der Dinge" spiele dabei noch keine allzu große Rolle, führt Tuzmukhamedow aus: "Da wir rund 170.000 Kameras für die Videoüberwachung im öffentlichen Raum installiert haben, die pro Jahr 1,2 Milliarden Stunden Material liefern, brauchen wir keinen Sensor in jeder Mülltonne." Jeden Morgen werde ein Auszug der Aufnahmen überprüft und gegebenenfalls Sanktionen gegen einen untätig gebliebenen Dienstleister verhängt. Dasselbe System werde bereits etwa auch zur Kontrolle von Bauaktivitäten eingesetzt.

Der Kreml in Moskau

(Bild: Artur Janas, gemeinfrei (Creative Commons CC0) )

Auf die Maschinerie zur Videoüberwachung haben in Moskau 6000 Polizisten und 10.000 Verwaltungsmitarbeiter Zugriff. 45.000 Strafen werden darüber täglich wegen Verkehrsdelikten wie Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Falschparken automatisch ausgestellt. Das System soll zudem bereits in 70 Prozent der polizeilichen Ermittlungen eine Rolle spielen und Schritt für Schritt an Brennpunkten mit biometrischer Gesichtserkennung aufgerüstet werden.

In vielen Wartezimmern von Ärzten oder Rettungsstellen von Kliniken könnten Patienten auch schon über Echtzeit-Kameras in Erfahrung bringen, wie groß der Andrang vor Ort gerade sei, erzählt Tuzmukhamedow. 660 Krankenhäuser und Labore, 21.000 Ärzte sowie neun Millionen Bürger seien in Moskau an ein einschlägiges E-Health-System angeschlossen. Darüber würden im Jahr 25 Millionen elektronische Rezepte ausgestellt und 187 Millionen Termine digital vereinbart – was die mit der elektronischen Gesundheitskarten eher geplagten als gesegneten Bundesbürger und Ärzte in Deutschland überraschen dürfte. In Moskau sei es auf diesem Weg gelungen, dass kein Ratsuchender länger als zwei Tage auf eine Konsultation bei einem Spezialisten warten müsse. Ziel sei es auch, die Zeit des Herumsitzens vor einer Sprechstunde auf maximal 15 Minuten zu begrenzen.

Das Moskauer Smart-City-Projekt umfasst auch eine umfassende Initiative zur Digitalisierung im Bildungsbereich: Laut aktuellen Zahlen sind 1840 Schulen mit 52.000 Lehrern und 1,6 Millionen Schüler mit Anschlüssen mit einer Bandbreite von rund 30 MBit/s vernetzt, alle Ausbilder und alle Eleven verfügen über ein persönliches Laptop oder Tablet. "Es ist möglich, alle Noten über eine App einzusehen", erklärt Tuzmukhamedow. "Wir haben die Schiefertafeln mit intelligenten Paneelen ersetzt und eine in Eigenregie betriebene Cloud mit Bildungsinhalten aufgebaut, die prinzipiell frei weiterverwendet werden können." Eltern könnten auf ihrem Smartphone sogar einen Benachrichtigungsdienst beziehen, wann ihre Schützlinge in die Schule kommen und diese wieder verlassen.

Auch eine Ansicht von Moskau

(Bild: Русский, gemeinfrei (Creative Commons CC0) )

Das hört sich alles doch sehr nach Big Brother an, Orwell lässt grüßen. Der Stadtvertreter betont aber, dass es in Moskau keine zentrale Datenbank gebe, in der Informationen aus den einzelnen Systemen zusammengeführt würden. Es sei zwar ein elektronischer Dokumentenfluss für insgesamt 2000 kommunale Einrichtungen eingeführt worden, ein zentrales Rechnungs- und Finanzwesen und ein einheitliches elektronisches Beschaffungssystem, mit denen die Stadt Hunderte Millionen Rubel pro Jahr spare. Einzelne Abteilungen und Referate könnten anwendungsbezogen im Bedarfsfall ferner Informationen aus verschiedenen Datenbanken beziehen, damit diese nicht wiederholt eingegeben werden müssten. Dafür sei aber genauso wie für das Tracking von Schülern oder den Versand von Patientendaten die jeweilige Einwilligung der Betroffenen erforderlich.

Ohne einen entsprechenden Breitbandausbau würde die Basis für die schöne neue Dienstewelt Moskaus fehlen, meint Tuzmukhamedow. Die Stadt habe daher auch hier gehörig investiert. Nun sind sämtliche U-Bahnlinien auf 330 Kilometer Länge genauso mit WLAN ausgerüstet wie S-Bahnen, Regionalzüge oder Busse. Ferner sind 15,5 Quadratkilometer Stadtfläche mit über 1100 Hotspots mit kostenlosem drahtlosem Internet abgedeckt. Zum Einloggen müssen sich Nutzer eine SMS mit einem Passwort zuschicken lassen, wobei Touristen oft noch das Nachsehen haben, da das Roaming in diesem Fall nicht immer funktioniert. Da die Zugangspunkte in Kooperation zusammen mit privaten Telekommunikationsfirmen betrieben werden, wird in der Regel ein Werbespot vorgeschaltet.

Mit diesem beachtlichen WLAN-Netz liegt Moskau laut Tuzmukhamedow weltweit an zweiter Stelle hinter Seoul. Die Hotspots würden sehr gut angenommen, in der Metro vor allem auf der Ringbahn: aus den Serverdaten sei erkennbar, dass manche Nutzer vor allem am Abend stundenlang im Kreis führen und offenbar Videos schauten oder mit Verwandten im Ausland skypten. Der Insider vermutet: "Das sind wohl vor allem Usbeken, die in ihren Unterkünften keinen festen Internetanschluss haben."

Insgesamt ist in 81 Prozent des Stadtgebiets Breitband mit mindestens 20 MBit/s verfügbar. 99 Prozent sind mit 4G-Mobifunk versorgt und kommen damit auf mindestens 7 MBit/s, die Tarife gehören mit zu den günstigsten in Europa. 77 Prozent der Moskauer haben ein Smartphone.

U-Bahn in Moskau

(Bild: Evgeni Tcher, gemeinfrei (Creative Commons CC0) )

Für 5G will die Stadt rasch den Weg bereiten, sobald der Standard tatsächlich feststeht. Da treffe es sich gut, meint Tuzmukhamedow, dass ein großes Renovierungsprojekt für Gebäude aus der Stalinzeit anstehe, von dem in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren rund eine Million Einwohner betroffen sei: Bei den Bauplänen sollten bereits Anbringungsmöglichkeiten für 5G-Antennen sowie Ladepunkte für Elektroautos mit berücksichtigt werden.

Ein erstes Test-Netzwerk für die kommende Mobilfunkgeneration wird plangemäß im Technologie-Park Skolkowo am Westrand der Metropole entstehen: eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnete der Präsident des Innovationszentrums, Wiktor Wekselberg, Mitte Oktober gemeinsam mit Geldgebern wie der staatlichen Entwicklungsbank VEB.

E-Mobilität spielt dagegen in Moskau momentan noch keine große Rolle, da Russland über vergleichsweise große eigene Ölreserven verfügt und Benzin nicht sonderlich teuer ist. Es gebe natürlich einige Tesla-Besitzer, ist zu vernehmen, aber der Anteil von Elektrofahrzeugen am großen Verkehrsaufkommen sei insgesamt gering. Nachholbedarf besteht auch noch an technischen Lösungen, um die sich auf den Magistralen zu jeder Tag- und Nachtzeit immer wieder stauenden Autoströme besser zu lenken.

Auf der Aufgabenliste des IT-Referats stehen laut Tuzmukhamedow gerade aber andere Punkte weiter oben wie etwa die Einführung intelligenter Stromzähler ("Smart Meter"). Die Verwaltung wolle zudem nächstes Jahr rechtzeitig zur Fußball-WM einen mit künstlicher Intelligenz angereicherten Chat-Bot starten, demgegenüber Nutzer Wünsche äußern könnten. Ferner solle das dahinterstehende System als Führer durch den verbliebenen Bürokratiedschungel fungieren und etwa auf freie Parkplätze hinweisen. Genereller Ansatz sei es, dass die Bürger immer weniger aktiv Verwaltungsdienste nachfragen müssen, sondern diese ihnen genau zur rechten Zeit bedarfsgerecht angeboten werden. (jk)