Nachruf: Adieu, Google+!

Google+ ist vielleicht das ungeliebteste soziale Netzwerk. Und dennoch Heimat für viele, die sich nirgends richtig heimisch fühlten. Ein vorgezogener Nachruf.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 73 Kommentare lesen
Google Plus

(Bild: dpa, Tobias Hase)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
Inhaltsverzeichnis

Google+ schließt. Es tut nicht mal richtig weh. Wir haben seit Jahren geahnt, dass es so kommen muss. Ein soziales Netzwerk ohne Werbung? Das ist so aus der Zeit gefallen wie ein Instant Messenger, der seinen Nutzern keine Turnschuhe verkaufen will. Wer will sich so etwas auf Dauer ans Bein binden?

Schon seit Jahren wird Google+ allenfalls noch im ironischen Kontext erwähnt. Ein Witz, der noch ein wenig trauriger war als eine MySpace-Seite. Dass es nun endgültig zu Ende geht, wurde immer klarer. So wollte selbst Google Frankreich die uncoole Plattform aus eigenem Haus nicht mehr nutzen.

Google+ ist nichts Besonderes. In keiner Hinsicht. Man postet einen Link, Google lädt ein Vorschaubild nach und dann kann die Diskussion beginnen. Die Umfragefunktion ist etwas besser als auf Twitter, die Möglichkeit, Communities zu verwalten, umfangreicher als auf Facebook. Doch alles in allem nichts Aufsehenerregendes, kein Killer-Feature in weiter Sicht.

Wir auf Google+ sind dort, weil wir eh schon alle einen Google-Account haben und nicht ständig das neuste soziale Netzwerk ausprobieren wollten. Vero? Path? Ello? Wer hat die Zeit? Wer verträgt so viel permanente Enttäuschung?

Der Reiz von Google+ liegt in dem, was es nicht ist. Es ist kein Facebook, wo Inhalte allenfalls emotional diskutiert werden können und unvermittelt eine Tante Kinderbilder postet. Es ist kein Twitter, wo jeder Gedanke in seine destruktivsten Bestandteile zerlegt und retweet-heischend herumgereicht wird. Es ist nicht das hyperaktive Reddit, bei der jeder auf der Suche nach seiner Identität zu sein scheint. Es ist kein Xing oder LinkedIn, wo jeder Artikel mit schamlos oder verzweifelt kommerziellen Hintergedanken versehen ist. Es ist nicht Instagram. Wer auf Google+ Essensfotos postet, hat seine Mahlzeit am besten selbst gekocht. Wer Kosmetiktipps gibt, kennt wahrscheinlich die genaue chemische Zusammensetzung des Mascara-Stifts.

Natürlich ist Google+ keine elitäre Enklave mit ausschließlich konstruktiver Debatte. Wer den Fehler macht, die Empfehlungen Googles nicht sofort zu deaktivieren, wird mit einem bunten Mischmasch aus Infomüll konfrontiert: Hass, Spam und Bots, die Hass und Spam verbreiten. Wie YouTube-Kommentare ohne Videos.

Und doch gibt es viele Inseln auf Google+, wo sich Communities zusammenfinden, die Spaß an einer Diskussionskultur haben, die auf anderen Plattformen längst verdrängt wurde. Wo man tatsächlich ergebnisoffen diskutieren kann, wo die Vor- und Nachteile eines Fahrrads oder einer Kamera systematisch und kenntnisreich debattiert werden. Und wo man Freundschaften pflegen und vielleicht sogar neue Bekanntschaften schließen kann.

Obwohl Google+ aus kommerzieller und technischer Sicht zweifellos ein gescheitertes Experiment war, verliert Google mit der Schließung an Charakter. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als "Don‘t be evil!" noch Maxime war, als Google sich als integraler Bestandteil einer übergreifenden Netz-Community definierte und Umsatzziele auch mal ignorierte. Was will der Konzern mit noch mehr Geld? Plus reiht sich ein in eine Anzahl von Lebensräumen und Tools, die Google uns gegeben, dann aber wieder weggenommen hat. Google Wave lebt heute noch als Mythos einer besseren Kommunikation. Google Reader hat unsere Lesegewohnheiten zum Besseren verändert, sein Ende vielen Blogs den Todesstoß verpasst.

Die Suche nach der neuen Heimat für Google+-Bewohner hat begonnen – doch kein Kandidat stößt auf besondere Begeisterung: Ein Wechsel zu den großen Plattformen wäre widersinnig. Geht man jedoch den Weg zu den kleinen Networks, muss man wahrscheinlich fünf Accounts anlegen, um auch nur die Hälfte der Gesprächspartner zu erhalten. Jahrelange Konversationen werden verstummen, viele Leute werden sich aus den Augen verlieren. Immerhin gibt der Schluss des Kapitels wieder einen Antrieb, sich das Web wieder selbst als Konversationsraum einzurichten. Wieder ein Blog anzulegen, statt nur halbgare Artikel zu posten. Einen RSS-Reader zu installieren und ein paar richtig gute Newsletter zu abonnieren.

Adieu, Google+. (olb)