Zahlen, bitte! Die unkonstante Gravitationskonstante

Sie ist auf dem Grabstein von Stephen Hawking in der Entropie-Formel für schwarze Löcher als Konstante zu finden - doch so richtig konstant ist sie möglicherweise gar nicht, die Gravitationskonstante.

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Zahlen bitte: Die unkonstante Konstante
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Von
  • Andreas Stiller
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Sie ist die bei Weitem am ungenausten bekannte und vielleicht auch die geheimnisvollste der großen Naturkonstanten, doch ob es überhaupt eine Konstante ist, wird nicht selten angezweifelt: die Gravitationskonstante. Neue Messergebnisse sind immer wieder für Überraschungen gut, liegen ganz woanders als erwartet. Und immer wieder tauchen auch teils abenteuerliche Konstruktionen einer universellen, idealen Gravitationskonstanten auf – die Ungenauigkeit gibt dafür eben genügend Spielraum.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Gravitationskonstante G steht, ohne explizit definiert worden zu sein, schon im Mittelpunkt des Gravitationsgesetzes in der "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" von Isaac Newton aus dem Jahre 1686/87. Die Konstante versteckt sich da noch in Gestalt von Proportionalitäten. Die heutige Form, die die Anziehung zwischen zwei Punktmassen als G·(M1·M2)/r² spezifiziert, folgte erst 200 Jahre später.

Netterweise ergibt sich das Gesetz dann auch als erste Näherung aus den Gleichungen zur allgemeinen Relativitätstheorie (ART) von Albert Einstein. Und da trifft es sich gut, dass Einstein just heute am 20. März vor 102 Jahren die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie in ausführlicher Form auf 55 Seiten bei dem damals führenden Fachblatt "Annalen der Physik" eingereicht hat. Oft wird allerdings schon der November 1915 als "Geburtsstunde" der ART gefeiert, weil Einstein die Theorie und ein paar Folgerungen da schon in Grundzügen auf mehreren Sitzungen der Preußischen Akademie vorgestellt hatte, darunter auch die Erklärung der Perihel-Bewegung des Merkurs und die Ablenkung des Lichtes durch große Massen wie der Sonne. Okay, Einsteins Theorie war damals und ist wohl auch heute nicht für jedermann verständlich, aber für die bei den Sitzungen der Preußischen Akademie anwesenden Wissenschaftler offenbar schon. So konnte Karl Schwarzschild zum Beispiel nur wenige Wochen später für bestimmte Fälle mit Lösungen der Einsteinschen Gleichungen aufwarten.

Es geht ja bei der allgemeinen Relativitätstheorie insbesondere um die Erklärung der Gravitation als Effekt einer gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Eine wichtige Voraussetzung ist das Äquivalenzprinzip – schwere Masse gleich träge Masse – mit dem sich schon Galileo Galilei gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Pisa herumgeschlagen hatte. Ob er dabei tatsächlich Fallexperimente vom schiefen Turm durchgeführt hatte, ist allerdings nicht wirklich belegt.

Den Wert der Gravitationskonstanten kannte Newton wohl nur sehr grob, den Theoretiker Einstein interessierte er nicht sonderlich, er begnügte sich in seinem berühmten Aufsatz mit dem zweistelligen Wert von 6,7·10-11 m3/(kg·s2). Henry Cavendish hatte bereits im Jahre 1798 mit damals erstaunlich hoher Präzision die Konstante mit einer Torsionswaage zu etwa 6,74·10-11 m3/(kg·s2).bestimmen können – nur etwa 1 Prozent entfernt vom heute angenommenen Wert – wiewohl er diese Zahl nicht direkt benannte, sondern relativ kompliziert in Relation zur Erddichte ausdrückte.

Über 300 zum Teil sehr aufwendige Messverfahren mit Drehwaagen, Pendeln und anderen Techniken sind bis heute entwickelt worden, unglücklicherweise gibt es dabei zuhauf recht widersprüchliche Ergebnisse, so dass die Genauigkeit weiterhin zu wünschen übrig lässt. Kamen Forscher des Bureau International de Poids et Mesures 2014 (nach einer kleinen Korrektur) mit einer Torsionswaage auf den hohen Wert von 6,67554(16)·10-11 m3/(kg·s2) (BIPM-14), so ergaben im gleichen Jahr Messungen an der Universität von Florenz (LENS-14) mit einem Atom-Spektrometer – zwei 516 kg schwere Massen wurden um einen Strahl von Rubidium-Atomen bewegt – einen sehr kleinen Wert von 6,67191(99)·10-11 m3/(kg·s2). Wie man sieht, unterscheidet sich hier bereits die dritte Nachkommastelle deutlich.

Ein ziemliches hin und her der Messergebnisse -- aber vielleicht oszilliert die Gravitationskonstante ja auch ...

Die aktuelle internationale Empfehlung Codata 2014 mittelt zwischen vielen Messwerten und sie legte damit 6,67408(31)·10-11 m3/(kg·s2) fest. Der Wert in der Klammer gibt dabei die Standardunsicherheit an: 6,67408(31) steht also für 6,67408 +- 0,00031·10-11 m3/(kg·s2).

Aber vielleicht hat auch der palästinensische Wissenschaftler Abed Abou Layla recht, der die ideale universelle Gravitationskonstante aus Elementarladung, Lichtgeschwindigkeit und Boltzmann-Konstante zu Gi = 10-19·(kb·c/e)²=6,674010551359·10-11 m3/(kg·s2) ermittelt hat, wobei die Konstante 10-19 dann allerdings noch die merkwürdige Maßzahl mC²·k²J-2 kg-1 besitzen muss. Layla begründet in seinem Paper auch, wie je nach Messmethode zwangsweise Unschärfen um diesen Wert herum hinzukommen.

Mit dem Versuch, die universelle Gravitationskonstante irgendwie aus anderen Konstanten abzuleiten, steht Layla keineswegs allein da, auch andere haben kunstvoll verschiedene Konstanten zusammengerührt, kommen zum Beispiel auf 6, 6732309(3)·10-11 m3/(kg·s2).

Manche Wissenschaftler glauben über die zahlreichen unterschiedlichen Messungen eine Oszillation von G ausgemacht zu haben, mit einer Periode von etwa 6 Jahren und einer Amplitude von ca. 1,6 ·10-14m³/(kg·s²).

Nobelpreisträger Paul Dirac vertrat die Meinung, dass die Gravitationskonstante "altert".

(Bild: gemeinfrei)

Doch wenn der 1984 verstorbene britische Physiker und Nobelpreisträger Paul Dirac recht hat, dann stimmt das alles sowieso nicht, denn dann "altert" die Gravitationskonstante, nimmt seiner Meinung nach mit dem Alter des Universums langsam ab. Dirac hat schon zuvor seine berühmten Gleichungen der Quantenmechanik nach dem Prinzip konstruiert: Die Natur ist schön, also müssen die sie beschreibenden Gleichungen auch schön und symmetrisch sein – und hat damit letztlich recht gehabt. Auch die von ihm postulierten lange umstrittenen magnetischen Monopole sind ja inzwischen nachgewiesen worden. Mit seiner "Large Number Hypothesis" geht er noch einen Schritt weiter und bezieht sich auf diverse physikalische Verhältnisse, die zufälligerweise immer gigantische Werte von etwa 1042 (ja, ja – Douglas Noel Adams lässt irgendwie grüßen) annehmen. So ist das Verhältnis der elektrischen zur Graviationskraft zwischen Proton und Elektron etwa 1040. Daraus leitet Dirac irgendwie ab, dass die Gravitationskonstante umgekehrt proportional zum Alter des Universums sein müsste.

Zuletzt hat er sich auf einem seiner zahlreichen Vorträge auf den Nobelpreisträgertreffen, im Jahre 1979 in Lindau seiner alten Hypothese noch mal angenommen, was man schön in der Mediathek der Lindau-Veranstalters genießen kann.

Einige Wissenschaftler glauben derweil durchaus, Anzeichen für das Altern der Gravitationskonstante ausmachen zu können. Andere verschieben die Obergrenze für eine mögliche Alterung immer weiter nach unten, jedes Mal um gut eine Größenordnung. Zuletzt haben im Jahre 2017 helioseismologische Messungen als Obergrenze für einen Anstieg einen Wert von (delta G)/Gtoday =1,25(30)*10-13 pro Jahr ergeben – also in einer Billionen Jahre könnte die Gravitationskonstante um maximal etwa ein Achtel zunehmen.

In Zukunft wird man vielleicht im Weltraum die Gravitationskonstante noch 1000-mal genauer bestimmen können als auf Erden. Entsprechende Vorschläge über Satelliten und geeignete Messverfahren liegen in Europa und in USA bereits vor. Mit dabei, wie bei vielen dieser Weltraumexperimente, sind auch "Wissenschaftler vom Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation" (ZARM) aus Bremen – ja die mit dem schönen 146 Meter hohen Fallturm.

Seit zwei Jahren ist bereits der französische Satellit Microscope im All, dessen Hauptaufgabe es ist, das eingangs erwähnte Einsteinsche Äquivalenzprinzip messtechnisch zu untermauern. Der vor rund 100 Jahren verstorbene ungarische Physiker Lorand Eötvös hat einen Großteil seines Lebens damit verbracht, die Genauigkeit dafür immer weiter auf bis zu 5·10-9 zu verbessern. Microscope hat es jetzt mit einer Ungenauigkeit von 10-14 nachgewiesen, in diesem Jahr peilt man 10-15 an.

Für 2024 war beantragt, dass die ESA den Satelliten STE-QUEST(Space-Time Explorer and Quantum Equivalence Principle Space Test) ins All schickt, ausgestattet mit zwei Rubidium-Atomspektrometern und hochpräzisen Atomuhren. Die Messungen des Satelliten sollten Quantenfeldtheorie und allgemeine Relativitätstheorie miteinander verknüpfen. In der quantenmechanischen Welt sind nämlich Verstöße gegen das Äquivalenzprinzip denkbar – das sollte STE-QUEST aufspüren und nebenbei auch die Gravitationskonstante genauer vermessen. Aber er musste sich dem Konkurrenten Plato (PLAnetary Transits and Oscillations of Stars) zur Suche nach Exoplaneten zumindest für das laufende ESA-Programm bis 2025 geschlagen geben. Man wird also wohl noch viele Jahre abwarten müssen, bis man genauere Kenntnis über den Wert und die "Konstanz oder Unkonstanz" der Gravitationskonstante besitzen wird. (as)