Zahlen, bitte: Mit 1,8 Millionen Test-Kindern gegen Polio

Die bis dahin größte Impfstudie mit Kindern sowie patentfreier Impfstoff sind Teil der Geschichte des Kampfs gegen Poliomyelitis, auch Kinderlähmung genannt.

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Zahlen, bitte: Studie mit 1,8 Millionen Kindern gegen Polio
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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 65 Jahren erhielt der vom US-amerikanischen Immunologen Jonas Salk entwickelte Polioimpfstoff als erster die allgemeine Impfzulassung. In einer denkwürdigen Fernsehsendung versprach Salk am 12. April 1955 die Ausrottung der Kinderlähmung, die 1952 in den USA zur bis dato größten Polio-Epidemie führte.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Poliomyelitis oder Kinderlähmung ist eine Infektionskrankheit, die überwiegend Kinder infiziert. Sie führt zu Lähmungen und führte bei der Infektion der Atemwege zum Tod, bis die ersten Beatmungsgeräte entwickelt wurden. Sie war schon bei den alten Ägyptern bekannt, doch trat sie bis zum 19. Jahrhundert nur vereinzelt auf. 1887 erfolgte ein Ausbruch der Krankheit im Großraum Stockholm, der von dem Kinderarzt Karl Oskar Medin als Epidemie beschrieben wurde. 1916 erfasste die Epidemie New York mit 27.000 Gelähmten und 9000 Toten.

Die Entdeckung und Beschreibung des Poliovirus als Erreger der Krankheit gelang 1908 den Österreichern Karl Landsteiner und Erwin Popper. 1910 wurde entdeckt, dass das Serum von Genesenden der großen Epidemien in den USA und Skandinavien das Virus neutralisiert, doch konnten die auftretenden Epidemien noch nicht gestoppt werden. 1921 erkrankte in einer Epidemie der Politiker Franklin D. Roosevelt an Polio. Als er Präsident der USA wurde, gründete er die National Foundation of Infantile Paralysis, die heute als March of Dimes bekannt ist.

Die Organisation konnte besonders nach dem Zweiten Weltkrieg erhebliche Mittel einsammeln, als die USA im Jahre 1952 eine Polio-Epidemie mit mehr als 57.000 Erkrankten verzeichneten. Dank dieser Mittel gelang es den Immunologen John Francis Enders, Frederick Chapman Robbins und Thomas Huckle Weller, Poliovirenkulturen zu züchten und zu beobachten, wofür sie 1954 den Nobelpreis in der Medizin bekamen.

Auf dieser Basis konnte sich die mit erheblichen Mitteln unterstützte Forschung von Jonas Salk entwickeln. Salk hatte als Arzt und Immunologe im Labor von Thomas Francis Junior gearbeitet und war an Entdeckung verschiedener Influenza-Stämme beteiligt, die allgemein als Grippevirus zusammengefasst werden. 1947 konnte Salk an der medizinischen Fakultät der University of Pittsburgh sein eigenes Labor einrichten. Er gab bekannt, dass er sich auf die Erforschung der Erreger von Masern, Erkältungskrankheiten und der Poliomyelitis konzentrieren werde. Im Bereich der Polio-Forschung war Salk ein Neuling, doch die erheblichen Mittel der National Foundation lockten ihn an, zumal sein Labor zunächst sehr dürftig ausgestattet war.

Wissenschaftlich gelang es Salk recht schnell, einen Impfstoff gegen Polio zu entwickeln, den er an seiner eigenen Familie ausprobierte. Dabei wurden gesunden Personen mit abgetöteten Polioviren geimpft, um eine Immunisierung gegenüber dem Virus zu erreichen. Mit den unerschöpflichen Mitteln der National Foundation führte Salk die bis dahin größte Impfstudie mit 1,8 Millionen Kindern durch, die entweder den Impfstoff oder ein Placebo bekamen.

Gegen den Umfang dieser Studie protestierten John Enders und Albert Sabin, der direkte Gegenspieler von Jonas Salk. Sabin arbeitete an der Entwicklung eines Lebend-Impfstoffes, der geschluckt, nicht injiziert werden sollte. Der eher unwirsch auftretende Salk konterte mit einer Radiosendung unter dem Titel: "The Scientist Speaks for Himself". Mit der Sendung wurde Salk das Gesicht des Kampfes gegen die Polio-Epidemie. Er wurde vom berühmten Journalist Edward Murrow interviewt, sein Bild zierte das Cover der Times.

Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Salk am 12. April 1955, als sein Impfstoff nach einer nur fünf Tage dauernden Prüfung zugelassen wurde. In einer von Ann Arbor aus ausgestrahlten denkwürdigen Fernsehsendung gab Salk bekannt, dass sein Impfstoff bei zwischen 60 und 90 Prozent der Geimpften wirksam sei. Auf die Frage, wem das Patent für den Impfstoff gehört, antwortete Salk mit den berühmten Sätzen: "Well, the people, I would say. There is no patent. Could you patent the sun?" Das klang gut, war aber inhaltlich falsch, denn die National Foundation hatte die Vergabe ihrer Fördergelder an die Bedingung geknüpft, dass kein Forscher seine Erkenntnisse patentiert oder an einzelne pharmazeutische Unternehmen lizenziert. War ein Mittel gefunden, so sollte es der ganzen Welt gehören.

Das galt auch für Albert Sabin und seine Schluckimpfung mit Lebendviren. Der orale Impfstoff wurde 1956 fertig, doch konnte er aufgrund der medial mächtigen Stellung von Salk als erbittertem Gegner von Sabin nicht in den USA im großen Stil getestet werden. Sabin nahm ein Angebot der Sowjetunion an, dort die Schluckimpfung mit einer Million Kindern unter Leitung des Virologen Michail Petrowitsch Tschumakow zu testen. Diese Konstellation führte dazu, dass die Sowjetunion 1960 als erste den besser wirksamen Impfstoff besaß. Entsprechend begann 1960 die DDR mit der Schluckimpfung, während die BRD erst 1962 mit dem Impfen beginnen konnte, nachdem das "Patent" über eine österreichische Tarnfirma dem Westen geschenkt worden war.

Heute gehört die Poliomyelitis zu den Krankheiten, die nach den Plänen der Weltgesundheitsorganisation WHO ähnlich wie die Pocken ausgerottet werden soll. Das kann gelingen, weil das Virus nicht mutiert und nur den Menschen als Lebensraum hat. In Europa und den USA ist dies weitgehend der Fall. Dort tritt Polio nur noch bei Menschen auf, die das Impfen ablehnen, etwa bei den Amish in den USA oder den Calvinisten in den Niederlanden. Schwierig ist die Lage dort, wo die Terrorgruppe Boko Haram operiert. Sie sieht in Polio eine Verschwörung, mit der die Muslime sterilisiert werden sollen, und erschießt Mitarbeiter von behördlichen Gesundheitsdiensten. (axk)