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"Jeder Art von Veränderung muss der Bedarf für die Veränderung vorausgehen."

Alexander Neumann

Jutta Eckstein und John Buck beschreiben in ihrem neuen Buch, wie Agilität nicht nur innerhalb der IT gelebt werden, sondern in der ganzen Firma Einzug halten kann. Dabei geben sie Tipps aus der Praxis für eine erfolgreiche Umsetzung. Für heise Developer sprach Thomas Ronzon mit den beiden Autoren.

heise Developer: Was bedeutet firmenweite Einführung von Agilität?

Jutta Eckstein: Unternehmensweite Agilität ist die organisatorische Antwort auf die heutigen Herausforderungen. Wir leben derzeit in einer VUCA-Welt [VUCA bedeutet volatil, unsicher, komplex und zweideutig (engl. ambiguous); Red.]: Kundenbedürfnisse ändern sich schnell, Märkte brechen durch Disruptionen auseinander und die Digitalisierung trifft jede Branche. Unternehmen, die nicht agil, also nicht anpassungsfähig, reaktionsschnell, flexibel und wendig sind, kämpfen mit diesen Problemen.

Jutta Eckstein, John Buck: Company-wide Agility with Beyond Budgeting, Open Space & Sociocracy: Survive and Thrive on Disruption (ISBN 9781544672878)

Jutta Eckstein, John Buck: Company-wide Agility with Beyond Budgeting, Open Space & Sociocracy: Survive and Thrive on Disruption (ISBN 9781544672878)

Zum Beispiel ist die Vereinbarung von Jahresbudgets in diesen schnelllebigen Zeiten nutzlos, da die zentrale Entscheidungsfindung zu langsam ist. Die gleiche Denke, die Jahresbudgets favorisiert, befürwortet auch das Erstellen von Stellenbeschreibungen mit dem Ziel, Mitarbeiter zu finden, die der Stellenbeschreibung entsprechen. Diese Vorgehensweise ignoriert die Notwendigkeit, unabhängig vom Arbeitsauftrag nach geeigneten Mitarbeitern mit Innovationskraft und dem Willen zu lebenslangem Lernen zu suchen. Wenn kontinuierliches Lernen auf allen Ebenen und in allen Bereichen nur ein Lippenbekenntnis ist und keine hohe Priorität hat, werden Prozesse stabilisiert, die in der alten Welt angemessen waren, aber für die heutige Welt unzureichend sind.

Deshalb verbindet unternehmensweite Agilität bewährte Prinzipien durch die Synergie von Beyond Budgeting, Open Space, Soziokratie und Agilität (kurz BOSSA nova) zu einer allumfassenden agilen Theorie. Die Kombination dieser vier Disziplinen bietet einen Rahmen für die Durchführung sicherer Experimente, die alle oben genannten Herausforderungen adressieren können. So kann sich ein Unternehmen an alle Bedürfnisse anpassen und Disruptionen nicht nur überleben, sondern auch
selbst gestalten.

John Buck: Unternehmensweite Agilität bedeutet, dass das gesamte Unternehmen in Harmonie ist, einschließlich und vor allem des Vorstands und sogar der Aktionäre und Kunden. Sie bedeutet, dass alle in agile Prozesse, Strukturen und Strategien mit eingebunden sind. Allerdings lässt sich Agilität, wie sie von den IT-Abteilungen praktiziert wird, nicht einfach auf das höhere Management übertragen. Die BOSSA-nova-Synthese scheint hier der bessere Weg zu sein, um Werte und Vision (oder auch Spirit und Inspiration) in Einklang zu bringen.

heise Developer: Im Buch beschreibt ihr, wie man agile Ideen und Prinzipien auf eine ganze Organisation, zum Beispiel eine ganze Firma, ausrollen kann. Wer sollte denn euer Buch lesen? Richtet ihr euch an das Management oder an die Belegschaft? Oder an beide?

Buck: An beide Gruppen. Alle vier BOSSA-nova-Disziplinen legen Wert darauf, dass die Stimme jedes Einzelnen gehört wird, und ermutigen damit jeden, selbst die Initiative zu ergreifen und voranzutreiben.

Eckstein: Eigentlich nicht nur an Management und Mitarbeiter, sondern auch an Berater und Coaches – jeder kann so eine große Veränderung beeinflussen. Das Wichtigste ist, sie muss irgendwo anfangen.

heise Developer: Aber wie schafft ihr es, dass Leute, die sich nie mit dem Thema "Agilität" auseinandergesetzt haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Wenn ich da so an meine Kunden denke, kenne ich auch ein paar klassisch aufgestellte Firmen, deren Management noch nie etwas von Agilität gehört hat. Habt ihr vielleicht einen Tipp, wie man diese "aufwecken" und für dieses Thema sensibilisieren kann?

Buck: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, uns nicht viel mit Fragen des Change Management zu beschäftigen, weil wir der Meinung waren, dass es den Umfang des Buchs zu sehr erweitern würde. Mir persönlich gefällt das Change Management Framework von "Diffusion of Innovation [1]" sehr gut. Es gibt ganze Bücher darüber. In "diffusion of innovation parlance" sind die Manager, von denen du sprichst, wahrscheinlich "late majority"-Leute.

Eckstein: Jeder Art von Veränderung muss der Bedarf für diese Veränderung vorausgehen. Nach meiner Erfahrung spricht man auch in altmodischen Unternehmen über die Digitalisierung und deren Auswirkungen auf das Geschäft. Das bedeutet, dass sich derzeit alle fragen, wie sie sich verändern müssen, um zu überleben, oder welche Auswirkungen die Veränderungen auf ihr Geschäft haben. Da dies mit Change Management zusammenhängt, wie John betont – könnte es Menschen (und damit Unternehmen) geben, die versuchen werden, den Bedarf nach diesen notwendigen Veränderungen so lange wie möglich zu ignorieren – vielleicht zu lange. Wir sprechen über unternehmensweiteAgilität, nicht über den Einsatz von Scrum oder Ähnlichem, denn ein Stand-up-Meeting hilft einem Unternehmen nicht unbedingt, anpassungsfähiger, flexibler, reaktionsschneller und flinker zu werden.

heise Developer: Habt ihr diese Prinzipien mal in der Praxis ausprobiert?

Buck: Gemeinsam haben Jutta und ich Erfahrung mit den BOSSA-nova-Prinzipien in der Praxis sammeln können. Da gibt es die Firma Titansoft in Singapur und Taiwan, die mit der gesamten BOSSA-Nova-Synthese experimentiert. Eine Reihe von Unternehmen berichten von ihren Erfahrungen in sogenannten Insight-Boxen in unserem Buch. Darin beschreiben sie, wie sie bessere Organisationsmöglichkeiten ausprobiert haben – dieses Ausprobieren und Experimentieren ist eine der Kernbotschaften unseres Buchs. Zu diesen Unternehmen gehören ING, Walmart, Ericsson, Spotify und Statoil.

Eckstein: Alle Prinzipien der BOSSA-nova-Synthese sind erprobt und bewährt. Die meisten davon sind bereits in den 70er-Jahren entstanden (z. B. Beyond Budgeting oder Sociocracy). Neu ist jedoch ihre Synthese. Wir kennen viele Unternehmen – auch unsere Kunden –, die die Prinzipien von zwei oder drei der vier Disziplinen kombiniert haben, z. B. Agilität, Soziokratie und Open Space oder Agilität, Beyond Budgeting und Open Space, aber nicht viele kombinieren alle vier.

heise Developer: Gibt es denn auch Nachteile für eine klassisch aufgestellte Firma?

Eckstein: Der Nachteil liegt weniger in der Verwendung von BOSSA nova als vielmehr in der Zeit, in der wir leben. Es wird zunehmend schwieriger, Struktur, Strategie oder Prozesse zu stabilisieren. Weil sich die Dinge so schnell ändern, müssen sich Unternehmen ständig verändern und anpassen können. Deshalb ist es wichtig, offen für Experimente zu sein, und das braucht Mut. Gerade hier in Deutschland planen wir gerne gründlich und folgen einem Plan. Jetzt fordert die heutige Welt, den Plan entsprechend den heutigen Bedürfnissen zu ändern und nicht an einem Plan für die Bedürfnisse von gestern festzuhalten.

heise Developer: Habt ihr einen Tipp, womit man starten sollte?

Buck: Ja, nimm dir etwas Zeit zum Nachdenken. Mach es regelmäßig! Reflexion führt zu "Überlegungen". Die BOSSA-nova-Synthese kann helfen, viele "Überlegungen" anzuregen, die zu "Lass uns mal alternative Management-Praktiken ausprobieren" führen können. Und schon bist du auf der BOSSA-nova-Tanzfläche.

Eckstein: Das Gute ist: Du kannst überall anfangen – Strategie, Struktur oder Prozesse. Denn wo immer du beginnst, werden die beiden anderen von deiner Veränderung beeinflusst. Und ja, beginne mit der Reflexion, der Analyse deiner Situation, der Bedürfnisse, der Schmerzpunkte und entwickle "Safe-to-Fail"-Experimente, die zur Verbesserung beitragen.

heise Developer: Gibt es Probleme, wenn eine agil arbeitende Firma mit einer eher "klassisch" aufgestellten Firma arbeiten will? Gibt es etwas, was hier eher vermieden werden sollte?

Buck: Die Dimension der Inspiration kann helfen. Finde heraus, welcher Geist und welche Werte beide Firmen leiten. Eine gemeinsame Inspiration ist die Basis für große Partnerschaften. Wir sprechen in zwei Kapiteln über Inspiration und Reflexion.

Eckstein: Ich denke, es macht keinen Unterschied. Jedes Unternehmen agiert in seiner Umgebung, und wenn ein agiles mit einem klassischen Unternehmen zusammenarbeitet, ist auch das klassische Teil dieser Umgebung. Das Umfeld von Unternehmen definiert sich nicht nur durch die Unternehmen, mit denen sie interagieren, sondern auch durch die Gesellschaft und die Vorschriften. All das beeinflusst die Art und Weise, wie ein (agiles) Unternehmen handelt und handeln kann.

Aber auch Unternehmen beeinflussen dieses Umfeld. Wir vergleichen das mit dem Tanzen – wahrscheinlich aufgrund der Bossa-Nova-Metapher: Auf der Tanzfläche passt man sich anderen Tänzern und der Musik an, aber die Art, wie du tanzt, beeinflusst auch die anderen Tänzer und die Musik, die gespielt wird.

heise Developer: Habt ihr schon mal Feedback vom Management bekommen?

Buck: Wir haben das Buch rechtzeitig veröffentlicht, um es im März 2018 auf der Business-Agility-Konferenz in New York vorzustellen, und wir haben reichlich Interesse erfahren – auch von weiteren Konferenzen. Wir erhalten tatkräftige Unterstützung von einer Reihe von Managern, die wir gebeten haben, unser Buch zu begutachten. Ein spannendes Beispiel: Ein Manager in Singapur lässt es ins Chinesische übersetzen.

Eckstein: In der Tat erhalten wir Feedback vom Management. Allen voran sind es derzeit die Finanzindustrie und der Einzelhandel, die auf der Suche nach Ideen sind, wie sie als ganzes Unternehmen agil werden können. Zurzeit erhalten wir am häufigsten Management-Feedback aus diesen Industriezweigen.

heise Developer: Hab ihr schon Pläne für die Zukunft?

Eckstein: Wir hoffen, dass die Menschen die Mächtigkeit der unternehmensweiten Agilität verstehen und nutzen. Mit der Website agilebossanova.com [2] bieten wir einerseits ein Zuhause für das Buch und andererseits eine Plattform zum Erfahrungsaustausch über unternehmensweite Agilität. Derzeit werden diese Erfahrungen über unseren Blog, aber auch über Artikel von Kollegen ausgetauscht. Wir hoffen, dass diese Plattform das gegenseitige Lernen ermöglicht.

Was das Buch angeht, ist es sehr spannend zu sehen, wie es übersetzt wird. Die Übersetzung ins traditionelle Chinesische ist gerade fertig, die ins Deutsche hat begonnen, und wir diskutieren gerade über eine portugiesische. Eine weitere coole Entwicklung ist die Einspielung als Hörbuch. Sie wird voraussichtlich in diesem Sommer verfügbar sein.

Buck: Unsere Aufgabe ist es nun, BOSSA nova bekannt zu machen, damit möglichst viele Menschen davon profitieren können. Neben Social Media und Interviews wie diesem werden wir in den kommenden Monaten auf Konferenzen vertreten sein. Ein Kollege hat mich kürzlich gefragt, wann wir BOSSA-nova-Schulungen anbieten werden. Wir müssen mal darüber nachdenken.

Außerdem habe ich den Traum von einem System oder Netzwerk, in dem Menschen aus vielen Unternehmen und Branchen die Ergebnisse ihrer kontinuierlichen Verbesserungsexperimente veröffentlichen, wie es Wissenschaftler in anderen Disziplinen tun. Es würde bedeuten, dass jeder als Ergänzung zu seiner regulären Arbeit ein Wissenschaftler für Unternehmensführung wäre; die ganze Gesellschaft würde von dem regelmäßigen Austausch ihrer Innovationen profitieren. Ich habe keine Ahnung, ob sich dieser Traum jemals erfüllen wird.

heise Developer: Dann bedanke ich mich bei euch für dieses Interview. Viel Erfolg!

Das Gespräch führte Thomas Ronzon. Er arbeitet seit 2000 als Projektleiter und Senior-Softwareentwickler bei der w3logistics AG in Dortmund. Dabei beschäftigt er sich vor allem mit der Modernisierung von unternehmenskritischen Logistikanwendungen. (ane [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4128263

Links in diesem Artikel:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Diffusionstheorie
[2] https://agilebossanova.com
[3] mailto:ane@heise.de