Wissensvermittlung in agilen Projekten

Im Rahmen agiler Projekte muss viel Wissen abseits der schriftlichen Dokumentation vermittelt werden. Die Wahl der richtigen Methode ist für eine gelungene Kommunikation und oft auch für den Erfolg eines Projekts wichtig.

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Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Chris Rupp
  • Carsten Pflug
Inhaltsverzeichnis

Agile Vorgehensweisen ersetzen das ausführliche, schriftliche Dokumentieren von Anforderungen meist durch das Übermitteln benötigten Wissens in anderer, meist mündlicher Form. Bei Scrum ist der organisatorische Rahmen für die Wissensvermittlung durch das Planning Meeting klar definiert, die methodische Frage, wie Informationen über das zu bauende System vermittelt werden, ist allerdings weitgehend ungeklärt. Dieser Umstand kann in der Praxis zu Problemen führen, da didaktisch ungeeignete Herangehensweisen Ressourcenverschwendung und Frustration bei allen Beteiligten bedeuten können.

Die Faktoren, die den Erfolg der Weitergabe des Wissens beeinflussen, sind vielfältig und reichen von den zu vermittelnden Inhalten bis hin zu Rahmenbedingungen wie Anzahl der Empfänger oder die zur Verfügung stehende Zeit. Im Folgenden wird auf diese Umstände eingegangen und es werden Empfehlungen zur Wahl geeigneter Vermittlungsmethoden gegeben.

In der Softwareentwicklung gibt es sowohl "leichtgewichtige" (zum Beispiel Scrum) als auch "schwergewichtige" (zum Beispiel das V-Modell) Vorgehensmodelle, für die es jeweils gute Argumente gibt. In beiden Fällen ist jedoch Wissen zu vermitteln. So muss beispielsweise das Entwicklungsteam – auf welche Weise auch immer – Informationen über die im System zu realisierende Fachlichkeit erhalten. Da diese Zusammenhänge oft komplex sind, ist häufig ein Fachbereichsexperte von Nöten. Bei Scrum ist der organisatorische Rahmen für die Wissensvermittlung das Planning Meeting. Hier erarbeiten Entwicklungsteam und Product Owner gemeinsam einen Plan für den nächsten Sprint. Zum Klären der Anforderungen nutzt der Owner User Stories, die allerdings wenig Dokumentation umfassen und die Frage aufwerfen, ob es sich hierbei um das ideale Medium handelt. Sollten die zu vermittelnden Inhalte während des Planning Meeting nicht klar kommuniziert werden können, ist das Erreichen des Sprint-Ziels gefährdet.

Gerade im Software Engineering folgen Neuerungen zunehmend schneller aufeinander und ein Release jagt das nächste. Eine Konsequenz davon ist, dass die Mitarbeiter in der Lage sein müssen, sich Wissen in immer kürzerer Zeit anzueignen. Dafür ist es wichtig zu erkennen, welche Parameter den Lernerfolg beeinflussen. Zunächst einmal muss man sich ansehen, wie genau Informationen aufgenommen wird. Die Zugänge zu unserem Gehirn sind dabei unsere Sinne.

Da Menschen ausschließlich über ihre Sinne lernen, ist es günstig, bei der Wissensaufnahme möglichst viele dieser Kanäle zu beteiligen, da das Gehirn so besser Informationen speichern kann. Werden beispielsweise Bilder und Ton kombiniert, können vermittelte Inhalte besser aufgenommen werden, als wenn die optische Verstärkung fehlen würde (s. Abb. 1). Die meisten Sinne werden in der Regel angesprochen, wenn der Lernende selbst tätig wird.

Bei der Auswahl der Lernmethode sollte zudem der Umstand Berücksichtigung finden, dass jeder Mensch einen bevorzugten Sinn zur Wissensaufnahme hat.

Durch Beteiligung mehrerer Sinne kann der Lernerfolg gesteigert werden (Abb. 1)

Abgesehen davon wie man lernt, ist es wichtig zu wissen, was eigentlich gelernt werden soll. In der Psychologie unterscheidet man zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen. Unter ersterem versteht man Sachwissen wie eine auswendig gelernte Telefonnummer. Das Wissen um einen Handlungsablauf (also eine Prozedur), zum Beispiel Autofahren, wird prozedural genannt. Wenn man die beiden Arten genau betrachtet, wird deutlich, dass man sie auf unterschiedlichem Wege erhält. So geht zwar jeder davon aus, dass man sich eine Telefonnummer, die einem gesagt wird, merkt, niemand würde aber ernsthaft annehmen, dass man durch einen Vortrag lernen könnte, wie man Auto fährt.

Was bei solch alltäglichen Dingen klar scheint, bleibt bei der Wissensvermittlung allzu oft unberücksichtigt. Aus diesem Grund ist die Wahl der richtigen Vermittlungsmethode von entscheidender Bedeutung. Nur wenn die passend gewählt wurde, kann man davon ausgehen, dass der Inhalt beim Lernenden in gewünschter Art und Weise ankommt.

Watzlawicks Sender-Empfänger-Modell mit Erweiterung um die zu vermittelnde Kompetenz und die daraus resultierende Vermittlungsmethode (Abb. 2)


Ein wichtiges Modell im Kontext der Wissensvermittlung ist das Sender-Empfänger-Modell aus der Kommunikationswissenschaft von Paul Watzlawick [1]. Die Erweiterung in Abbildung 2 zeigt die Zusammenhänge zwischen den zentralen Begriffen der Wissensvermittlung und soll im Folgenden als Kommunikationsbasis dienen. Das Modell besteht aus den vier Begriffen Sender, Empfänger, Kompetenz und Vermittlungsmethode.

Kompetenz ist das, was vermittelt werden soll. Wie Abbildung 2 zu entnehmen ist, gehen mit dem Kompetenzbegriff die folgenden Attribute einher: Bereitschaft, Handlungsfähigkeit, Kontext, deklaratives und prozedurales Wissen. Während die beiden letzten vermittelbar sind, sind es die anderen Attribute nicht oder zumindest nur zum Teil. Unter Handlungsfähigkeit versteht man die Fähigkeiten, die man neben dem Wissen benötigt, um Handeln zu können. Dazu zählen auch alle essentiellen Dinge, wie Programmierkenntnisse und kommunikative Fähigkeiten, die zum zufriedenstellenden Ausführen einer Tätigkeit nötig sind. Die Bereitschaft bezeichnet den Willen, das erlangte Wissen einzusetzen, denn brachliegendes Wissen nutzt niemandem. Nicht zuletzt muss der Wissensempfänger in der Lage sein, seine erlangte Fähigkeit in den verschiedensten Kontexten einzusetzen.

Der Sender ist der Kommunikationspartner, der Kompetenz vermitteln möchte, während der Empfänger der Kommunikationspartner ist, der diese benötigt. Im vorgestellten Vermittlungsmodell wird von einem idealen Sender ausgegangen, der alle Voraussetzungen für eine ideale Wissensweitergabe mitbringt. Obwohl niemand diesem Ideal gerecht wird, zeigt die Erfahrung, dass der Erfolg der Wissensvermittlung sehr stark von einem kompetenten Sender abhängt.

Wie der Sender die Kompetenz an den Empfänger vermittelt, zum Beispiel durch einen Vortrag oder gemeinsames Arbeiten an einem Thema, beschreibt die Vermittlungsmethode. Sie wird in der Didaktik in Sozialformen und Handlungsmuster unterteilt.

Verschiedene Sozialformen (Abb.3)


Die Sozialformen beschreiben ein gewisses Setting, in dem die Wissensempfänger zusammenarbeiten. Sozialformen sind aus der Schule bereits geläufig. Typische Kandidaten sind der Frontalunterricht, bei dem ein Lehrer (Sender) einer Gruppe Schülern (Empfängern) gegenübersteht, oder die Gruppenarbeit. Im agilen Kontext gibt es zusätzliche Sozialformen, wie den On-Site Customer, bei dem ein Sender sich zu den Empfängern setzt und jederzeit zur Verfügung steht. Das hilft den Beteiligten, Anforderungen und Fragen kurzfristig zu klären. Der Sender kann außerdem durch seine Anwesenheit Arbeitsstände sofort überprüfen und potenzielle Fehler und Missverständnisse klären.

Handlungsmuster (Abb. 4) sind die elementaren Bausteine der Wissensvermittlung. Vielen begegnet man tagtäglich und kennt sie vom Namen her, denn jeder weiß, was ein Vortrag ist oder kennt Diskussionen. Ein Handlungsmuster wird auch gerade jetzt angewendet, und zwar das des Lesens.

Da an dieser Stelle eine ausführliche Erläuterung aller Handlungsmuster zu umfangreich wäre, beschränken sich die folgenden Beschreibungen auf einige Beispiele. Anforderungen erahnen funktioniert so, wie es sich durch den Namen erahnen lässt: Der Empfänger versucht zu erahnen, welche Anforderungen der Sender hat. Die Ergebnisse müssen Sender und Empfänger danach absprechen. Der Vortrag, als eine der bekanntesten Techniken, ist ein sehr senderlastiges Vorgehen, bei dem der Sender sein Wissen vorträgt und der Empfänger zuhört. Bei einem Interview hingegen wird der Empfänger die Informationen durch gezieltes Fragen vom Sender abholen. Für die gezielte Wissensvermittlung wohl weniger geeignet ist die osmotische Kommunikation. Dieses Handlungsmuster basiert darauf, dass Sender und Empfänger im selben Raum sitzen und ihrer Tätigkeit nachgehen. Durch das bloße Zusammensitzen und Mithören was andere am Telefon oder in Gesprächen mit dritten Personen von sich geben, baut sich mit der Zeit Wissen auf. Daher ist bei der osmotischen Kommunikation, dem Nebenher-Mitbekommen, keine gezielte und in kurzer Zeit durchführbare Wissensvermittlung möglich. Ein paar weitere Handlungsmuster sind weiter unten im Fallbeispiel erläutert.

Beispiele für Handlungsmuster: Rot markiert sind die Handlungsmuster, die meist in agilen Kontexten
zu finden sind [4] (Abb. 4)


In Abbildung 5 sind unter anderem die Eigenschaften eines Handlungsmusters zu sehen, zum Beispiel wer (Sender oder Empfänger) den Inhalt des zu vermittelnden Wissen wann maßgeblich beeinflusst. Also ob der Sender der alleinige Herr über den Inhalt ist – wie man es vom Vortrag kennt – oder ob der Empfänger den Inhalt mitgestalten kann.

Zusammensetzung der Vermittlungsmethoden (Abb. 5)


Bei der Frage, wann welches Handlungsmuster eingesetzt werden sollte, muss man sich überlegen, welche Faktoren Einfluss nehmen. Einer wurde in diesem Artikel bereits erwähnt, nämlich die Art des zu vermittelnden Wissens (deklarativ oder prozedural). Andere Einflussfaktoren wären beispielsweise die Anzahl der Wissensempfänger, die räumliche Verteilung der Empfänger oder die Wichtigkeit des Lernerfolges.

Man kann feststellen, dass bei bestimmten Faktoren nicht nur ein Handlungsmuster funktioniert, sondern häufig eine ganze Auswahl zur Verfügung steht. Das kommt daher, dass bei bestimmten Einflussfaktoren Handlungsmuster einer bestimmten Ausprägung benötigt werden und mehrere Muster über diese verfügen.

Anhand des folgenden Szenarios sollen unter Berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren geeignete Handlungsmuster gefunden werden: In einer kleinen Stadt existiert seit 30 Jahren eine Bibliothek. In dieser gibt es einige Bibliothekare, die ihren Bestand mit einem Zettelkatalog verwalten. Um die Attraktivität der Bibliothek, gerade für jüngere Menschen, zu steigern, hat der Stadtrat beschlossen, sie zu modernisieren. Im Zuge der Modernisierung soll ein neues EDV-System den bisherigen Zettelkatalog ablösen.

Nach einer Ausschreibung erhält Firma X den Zuschlag. Sie arbeitet mit agilen Methoden. Im ersten Planning Meeting soll der darauf folgende Sprint geplant werden. Hierfür müssen die fachlichen Inhalte, die das System umsetzen soll, vermittelt werden. Dazu gehört sowohl deklaratives Wissen, beispielsweise welche Leihmedien wie lange ausgeliehen werden dürfen, aber auch prozedurales Wissen, zum Beispiel wie eine Ausleihe durchgeführt wird.

Einflussfaktoren sind hier unter anderem die Vermittlung prozeduralen Wissens. Zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass nicht die Bibliothekare das EDV-System entwickeln, im Scrum-Team also kein Vorwissen vorhanden ist.

Wie muss ein Handlungsmuster für dieses Szenario nun aussehen? Für die Vermittlung des prozeduralen Wissens sind Handlungsmuster gefragt, bei denen die Aktivität des Empfängers hoch ist (Prozesse können gut durch Handeln vermittelt werden), aber gleichzeitig der Sender den Inhalt des zu vermittelnden Wissens bestimmt (der Sender kennt den Prozess und weiß daher, was dazu gehört und was nicht). Auch das fehlende Vorwissen bei den Empfängern deutet auf Handlungsmuster hin, bei denen der Empfänger den Inhalt möglichst wenig beeinflusst. Bei Betrachtung der Handlungsmuster lässt sich feststellen, dass gleich ein paar diese Vorgaben erfüllen.

Im vorliegenden Beispiel scheinen die Handlungsmuster Prototyp, Apprenticing und Contextual Inquiry am besten geeignet. Ein Prototyp erlaubt es dem Wissensempfänger, sich spielerisch mit dem zu vermittelnden Thema auseinanderzusetzen. Beim Apprenticing übernimmt der Empfänger die Rolle des Wissensträgers. Er führt, unter Anleitung, die Arbeiten des Senders durch und erlernt so das nötige Wissen. Contextual Inquiry ist eine Mischung aus dem Beobachten des Senders und einem Interview. Der Empfänger beobachtet dabei den Sender bei seiner Arbeit und lernt auf diese Weise. Um das Erlernte zu vertiefen, werden an entsprechender Stelle Interviews zum Thema geführt.

Beim selben Beispiel können, unter veränderten Rahmenbedingungen, andere Handlungsmuster besser geeignet sein. Steht bei einem späteren Planning Meeting beispielsweise das Thema Datenmodell an, geht es nicht mehr darum, Handlungsabläufe zu kennen, sondern die Daten, ihre Zusammenhänge und Eigenschaften. Der Erfolg der Wissensvermittlung ist auch hier wichtig, damit das Sprintteam kein falsches Datenmodell implementiert.

In diesem Fall ist also deklaratives Wissen zu vermitteln. Demnach ist es weniger wichtig, dass der Empfänger möglichst aktiv irgendwelche Handlungsabläufe durchlebt. Folglich wäre auch ein Vortrag seitens des Sender denkbar. Da aber festgestellt wurde, dass eine erfolgreiche Wissensvermittlung essentiell ist, ist darauf zu achten, dass das gewählte Handlungsmuster mit einem hohen Anteil an Prüfungsmaßnahmen für die erfolgreiche Wissensvermittlung ausgestattet ist. Das trifft auf einen Vortrag nicht zu. Vielmehr wird ein Handlungsmuster mit stärkeren Feedbackanteil benötigt. Nützlich wären beispielsweise Übungsfragen, der Empfänger muss also Fragen des Senders beantworten und der Sender kann dadurch jederzeit prüfen, ob das Wissen beim Empfänger vorhanden ist. Auch das Muster Interview wäre geeignet, da das Frage- und Antwortspiel hier jederzeit einen Einblick in den Wissensstand des Empfängers gibt.

Eine Analyse wie die eben gezeigte lässt sich für unterschiedliche Szenarien anfertigen, sodass unter Berücksichtigung der entsprechenden Einflussfaktoren die jeweils passenden Handlungsmuster ermittelbar sind.

Betrachtungen zum Thema Wissensvermittlung haben gezeigt, dass diese nicht immer nach genau einem festen Schema ablaufen kann. Im Planning Meeting ist so zum Beispiel nicht immer das fachliche
Gespräch zwischen Product Owner und Scrum Team die geeignetste Art Informationen weiterzugeben. Vielmehr ist zu beachten, dass unterschiedliche Faktoren für die Wahl der Vermittlungsart eine Rolle spielen. Dazu zählen unter anderem der Typ des zu vermittelnden Wissens (prozedural oder deklarativ), die Anzahl der Empfänger oder die Komplexität der Inhalte.

Jedes mögliche Handlungsmuster hat dabei seine Stärken und Schwächen, die im Entscheidungsprozess zu beachten sind. Bei Präsentationen oder Vorträgen ist der Empfänger beispielsweise sehr passiv, was bei der Vermittlung von prozeduralem Wissen sehr ungünstig und nicht zu empfehlen ist.

Chris Rupp
publiziert und referiert seit Jahren zu den Themen Requirements Engineering und Objektorientierung. Sie ist Geschäftsführerin der Sophist GmbH.

Carsten Pflug
ist seit 2002 für die SOPHISTen als Berater und Trainer tätig. Seine Themengebiete umfassen unter anderem die Entwicklung von Systemarchitekturen, die Etablierung und Verbesserung von Requirements Management Methoden, sowie Modellierungstechniken und natürlich das breite Spektrum des Requirements Engineerings.

  1. Paul Watzlawick, Janet Beavin, Don Jackson; Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien; Huber; 2011
  2. J. Richard Gerrig, Philip G. Zimbardo; Psychologie; Addison-Wesley; 2008
  3. Andreas Krapp, Bernd Weidenmann; Pädagogische Psychologie: Ein Lehrbuch; Beltz; 2006
  4. Chris Rupp; Requirements Engineering und Management; Hanser Verlag; 2009
  5. Bernd Oestereich; Gedanken zur Sprache in Scrum; Blogeintrag auf heise Developer

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