Unvorhersehbar - höhere Gewalt und die Folgen

Wenn in der heutigen vernetzten Welt kritische Geräte oder Dienste ausfallen, kann es teuer werden - auch wenn es wegen "höherer Gewalt" passiert. Wer solchen Szenarien durch rechtliche Voraussicht begegnet, ist auf der sicheren Seite.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Georg Schnurer

Als Anfang 2008 innerhalb weniger Tage von insgesamt vier Seekabel-Brüchen im Mittelmeer und im Persischen Golf die Rede war, machten sogleich Verschwörungstheorien die Runde. Sie stellten sich später als haltlos heraus. Für jeden Kabelbruch gab es eine plausible Erklärung: Schiffsanker hatten die beiden Kabel vor der ägyptischen Küste und eines im Persischen Golf zerrissen. Ein Stromausfall beschädigte ein weiteres Kabel im Persischen Golf. Letztlich blieb auch das befürchtete Chaos aus. Immerhin verlor das für die Call-Center-Industrie wichtige Ägypten vorübergehend etwa 70 Prozent seiner Internet-Kapazität und 30 Prozent der internationalen Telefonverbindungen. Nach Angaben der Firma FLAG, die zwei dieser Seekabel betreibt, waren 85 Millionen Internetnutzer vorübergehend offline.

Mittlerweile haben Spezialfirmen die Schäden an den Kabeln beseitigt, doch einige Fragen bleiben. Etliche IT-Abteilungen von Unternehmen lassen mögliche Ansprüche gegen ihre Telekommunikationsanbieter prüfen, weil beispielsweise die Niederlassung oder der Outsourcing-Dienstleister in Indien keinen oder spürbar gebremsten Zugriff auf die Unternehmensnetze hatte. Die Dienstleister erteilen dann meist eine Absage und verweisen auf "höhere Gewalt", für die man eben nicht einzustehen habe. Das ist rechtlich betrachtet richtig und falsch zugleich.

Gerade unternehmenskritische Prozesse erfordern juristische Überlegungen zur Festlegung des Handlungsbedarfs, damit man im Fall der Fälle nicht "ohne Netz" dasteht. IT-Verantwortliche, die hier falsche Entscheidungen treffen oder zu lax handeln, bringen nicht nur ihre Firma in Gefahr, sondern – weil sie vielleicht bestimmte allgemeingültige Standards missachten – auch ihren Arbeitsplatz. Organe wie Vorstände von Aktiengesellschaften fangen sich zudem auch Regressansprüche der Gesellschaft ein.

Im Gesetz nicht vorgesehen

Wer viel mit Verträgen zu tun hat, kommt früher oder später mit Klauseln zu "höherer Gewalt" oder "force majeure" in Berührung. Gerade in angloamerikanischen Verträgen gehören sie – genau wie Klauseln zur Haftung, zum anwendbaren Recht oder zum Gerichtsstand – an sich zu den Standardregelungen, die in keinem Vertrag fehlen dürfen. In deutschen oder kontinentaleuropäischen Verträgen hingegen sind sie weniger verbreitet, weil sie streng genommen – etwa nach deutschem Recht – nicht zwingend erforderlich sind. Allerdings nehmen auch deutsche Juristen immer häufiger solche Klauseln in unternehmenskritische Verträge auf.

Dahinter steht zum einen, dass man sich im internationalen Geschäftsverkehr mittlerweile häufig an Gepflogenheiten im US-amerikanischen Recht orientiert. Tendenziell vereinheitlicht sich "die" internationale Vertragssprache, und regionale Besonderheiten verblassen. Zum anderen – und das ist aus rechtlicher Sicht ein valides Argument – verlässt man sich dann nicht mehr auf das, was sowieso im Gesetz steht, sondern regelt für beide Vertragspartner in (hoffentlich) eindeutiger Weise, was für sie unter dem Begriff "höhere Gewalt" zu verstehen ist und – fast noch wichtiger – was gelten soll, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintritt. Gerade die Seekabel-Fälle zeigen, dass solche Situationen viel häufiger eintreten, als man meinen möchte.

Mit äußerster Sorgfalt

Eine Definition des Begriffs "höhere Gewalt" gibt es im deutschen Recht nicht. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) nennt es "Zufall" (§ 287 BGB) oder "zufälligen Untergang" (§ 848 BGB), wenn jemand für den Verlust einer Sache auch dann einzustehen hat, falls ihn an dem Verlorengehen gar keine "Schuld" trifft. Eine Definition könnte aber lauten, dass es sich bei höherer Gewalt um "ein von außen kommendes, außergewöhnliches und unvorhersehbares Ereignis handelt, das auch äußerste Sorgfalt des Betroffenen nicht verhindern kann". Es muss sich also um einen Umstand handeln, den der Betroffene nicht beeinflussen kann. Als typische Fälle von höherer Gewalt gelten landläufig Brand, Unwetter, Erdbeben, Streiks, Unfälle, Krieg, Unruhen, Naturkatastrophen et cetera. In der englischen Vertragssprache werden häufig die anschaulichen Begriffe "Act of Nature" oder "Act of God" verwendet.

Letztlich geht es also darum, wer für eine nicht vertragsgemäß erbrachte Leistung einzustehen hat. Dabei geht es häufig um viel Geld. Wenn eine unternehmenskritische IT-Anwendung für mehrere Stunden nicht zur Verfügung steht, kann dies bedeutende Schäden verursachen. Der Auftraggeber oder Kunde eines Netzbetreibers wird sich dann die Frage stellen, ob er seinen TK-Anbieter für den Ausfall einer Leitung und den Ersatz des dadurch verursachten Schadens heranziehen kann. Das kann er in den Fällen von "höherer Gewalt" allerdings nicht. Denn es ist für den TK-Anbieter eben nicht beherrschbar und nicht vorhersehbar, dass ein Schiff ein Seekabel durchtrennt.

Oder vielleicht doch? Damit muss man doch rechnen, wenn man sich vor Augen hält, wie häufig solche Kabelbrüche vorkommen. Daher sind TK-Anbieter an sich auch verpflichtet, Redundanzen zu schaffen und alternative Routen für ihre Datenströme vorzuhalten. Das tun sie auch. Durch Absprachen mit Staaten stellen sie – wie im Fall der Seekabel nach Ägypten – sicher, dass sich in der kritischen Zone des Übergangs des Kabels vom Meer in ein Land keine Schiffe aufhalten dürfen und treffen weitere wirksame Schutzmaßnahmen. All diese Vorkehrungen gab es im Fall der betroffenen Seekabel. Der Seekabel-Betreiber hat also mit "äußerster Sorgfalt" gehandelt, und deswegen kann ihm niemand den Bruch des Kabels vorwerfen. Für ihn war der zeitlich begrenzte Ausfall bestimmter Übertragungskapazitäten auf "höhere Gewalt" zurückzuführen.

Auch der Kunde muss sich – eventuell nach entsprechendem Hinweis durch seinen TK-Anbieter – die Frage stellen, ob er für solche Fälle Backup-Möglichkeiten bereithalten muss. Denn es kann rechtlich auch nicht angehen, dass sich ein Kunde für die billigste aller Lösungen entscheidet mit der Einstellung, dass im schlimmsten Fall ohnehin der TK-Anbieter für den Schaden einzustehen hat, wenn er einmal nicht "äußerste Sorgfalt" walten ließ. TK-Anbieter sind letztlich keine Versicherungen, sondern "nur" zur Erfüllung der vertraglich vereinbarten Leistung verpflichtet. Grundsätzlich versuchen sie auch, ihre Haftung für Fälle des Netzausfalls oder einer Störung zu begrenzen oder ganz auszuschließen.

Im Einzelfall ist die Abgrenzung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten zwischen Kunde und Anbieter also schwierig. Daher gilt – wie so oft – der Grundsatz: Wer schreibt, der bleibt. Wer in einem Vertrag die Grenzen der eigenen Verantwortung gerade für solche "Krisenfälle" ausführlich und eindeutig beschreibt, bleibt vor juristischem Ärger gefeit. Wichtig sind auch Regelungen über die Verfügbarkeit und etwaige Reaktionen im Fall eines Netzausfalls. Soll der Anbieter zusätzliche Redundanzen aufbauen? Welche Eskalation soll erfolgen? Welche Anbindungen haben Vorrang vor anderen, wenn Kapazitäten nur eingeschränkt verfügbar sind?

Höhere Gewalt hat ihre Grenzen

Auch die Reichweite dessen, was als "höhere Gewalt" gilt, sollte der Vertrag im Zweifel genau beschreiben. Sind Streiks selbst mit "äußerster Sorgfalt" nicht zu vermeiden? Was, wenn es sich um eine rechtswidrige "Arbeitskampfmaßnahme" des Arbeitgebers handelt, zum Beispiel eine Aussperrung, und deswegen bestimmte Dienstleistungen nicht mehr zur Verfügung stehen? Dann hat an sich der Arbeitgeber – der Dienstleister eines Kunden – die Unmöglichkeit der Leistungserbringung selbst herbeigeführt und kann sich nicht auf "höhere Gewalt" berufen, auch wenn Arbeitskampfmaßnahmen landläufig dazuzählen.

Die Grundsätze zur höheren Gewalt gelten für sämtliche vertraglichen Ansprüche. Bei Unterschreiten einer vertraglich vereinbarten Dienstqualität (Service Level) aufgrund höherer Gewalt sind Vertragsstrafen oder "Credits" in der Regel ausgeschlossen. Es sei denn, der Anbieter hat den Fehler gemacht, die Einhaltung bestimmter Performance-Kriterien zu garantieren. Dann hat er die Verantwortung dafür übernommen, dass die Leistung diesen Vorgaben entspricht – egal, ob er etwa einen Netzausfall zu vertreten hat oder nicht.

Für die Internetprovider bedeutete der Verlust von Leitungen im Mittelmeer und im Persischen Golf, dass die Westanbindung massiv gestört war und der Datenverkehr beispielsweise von dort einen Umweg über Ostasien, die Vereinigten Staaten und über den Atlantik nach Europa nehmen musste. Dies bremste zwangsläufig die Übertragung, aber immerhin ließ sich die Kommunikation aufrechterhalten. Dieses Beispiel zeigt die Voraussicht der Telekommunikationsanbieter. Denn nur weil sie sich für solche Fälle Backup-Bandbreite gesichert hatten, konnten sie schnell reagieren und eben diese Alternativen anbieten. Zudem zeigt dieses Beispiel, welche Einkaufsstrategie Unternehmen verfolgen müssen, die besonders auf Erreichbarkeit ihrer ausgelagerten Systeme und Abteilungen angewiesen sind. Die Stichworte lauten "Redundanz" und "Diversifikation".

Fazit

Kommt es bei unternehmenskritischen Prozessen auf Leistungen von Dritten an, beispielsweise auf Netzwerk- oder Datenzentrumskapazität, dürfen die Vertragspartner nicht nur die typischen Themen wie Haftung, Service Level et cetera im Auge haben. Sie müssen sich mit allen möglichen Unwägbarkeiten der Vertragserfüllung befassen. Dazu zählt auch, sich mit Fällen der "höheren Gewalt" auseinanderzusetzen.

Sich hier ganz und gar auf die gesetzlichen Vorschriften zu verlassen, reicht meist nicht aus. Denn sie beschreiben nicht, welche Anstrengungen ein TK-Anbieter beispielsweise unternehmen muss, wenn ein kritisches Seekabel ausfällt. Wer vorausschauend handelt und bei der Vertragsgestaltung aufpasst, schützt nicht nur das eigene Unternehmen, sondern auch seinen eigenen Arbeitsplatz. Wer grob fahrlässig das eigene Unternehmen – also meist den Arbeitgeber – hohen Risiken aussetzt, kann wegen Verletzung des Arbeitsvertrages sogar den Job verlieren.

Tobias Haar, LL.M., ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt IT-Recht. (gs)