Die Milliarden-Lücke
Behörden nehmen Online-Händler ins Visier
Chinesische Online-Händler machen dank Amazon und eBay ein Riesengeschäft in der EU, versteuern ihre Umsätze aber nicht: Sie mogeln sowohl beim Direktversand als auch bei der Lieferung über EU-Zwischenlager. Nun laufen erste Gegenmaßnahmen an.
Till Schadde stand vor einem Rätsel. Der Chef des Münchner Hardware-Entwicklers tizi wusste, zu welchen Kosten seine chinesischen Konkurrenten ihre Smartphone-Ladegeräte produzierten. Doch die Verkaufspreise passten nicht dazu, sie waren viel zu niedrig. Dann kam er auf die Idee, die Konkurrenzprodukte zu kaufen und Rechnungen anzufordern.
„Da ist uns klar geworden, es sind die 19 Prozent; diesen Vorsprung haben die sicher“, erinnert sich Schadde. Die Rechnungen führten zwar die Mehrwertsteuer auf, aber nie die eigentlich verpflichtende Umsatzsteuer-ID. Seine Konkurrenten kassierten also Mehrwertsteuer, behielten diese aber für sich, statt sie ans Finanzamt abzuführen, schlussfolgerte Schadde.
c’t berichtete schon 2015 über das Problem: Händler aus Nicht-EU-Staaten liefern über EU-Zwischenlager und hinterziehen die dabei fällige Umsatzsteuer. Vieles schicken sie auch direkt aus China. Dabei geben sie oft falsche Warenwerte an, um die Einfuhrumsatzsteuer zu drücken. Konsequenzen müssen sie nicht fürchten. Den EU-Staaten entgehen Milliarden – nur Amazon und eBay profitieren.
Nun haben zumindest einige Behörden das Problem erkannt: Deutsche Steuerfahnder knöpfen sich chinesische Händler vor. Die EU-Kommission will das Steuersystem umkrempeln. Und die britische Regierung lässt Plattformbetreiber wie Amazon und eBay seit Kurzem für steuerhinterziehende Verkäufer haften.
Die 22-Euro-Grenze soll fallen
Dem Handelsblatt zufolge durchsuchten im Sommer Steuerfahnder mehrere deutsche Logistikzentren von Amazon. Sie waren auf der Suche nach Produkten eines Chinesen, dem sie Steuerhinterziehung vorwarfen. Bleiben die Behörden hartnäckig, könnten sie Dauergast bei Amazon werden. Denn die Steuermasche ist unter den chinesischen Händlern eher Regel als Ausnahme.
Anfang Dezember legte die EU-Kommission nach: Die Steuerfreiheit für Kleinimporte bis 22 Euro Warenwert führe zu „massivem Betrug“. Hochwertige Güter wie Smartphones würden „durchweg unterbewertet“. Deswegen werde man die Freigrenze, wenn der EU-Rat zustimmt, 2021 abschaffen. Künftig soll ab dem ersten Cent Einfuhrumsatzsteuer anfallen.
Damit die Reform kein Bürokratiemonster erschafft, sollen künftig Sendungen bis zu einem Wert von 150 Euro nicht mehr einzeln abgefertigt werden. Stattdessen sollen die Paketdienste Sendungsdaten für die Behörden sammeln, und die Verkäufer sollen periodisch Steuern zahlen. Empfänger müssten dann nur noch ab 150 Euro Warenwert selbst versteuern.
Zum Kasten: Teurer, aber besser
Auch das Problem mit den Zwischenlagern geht Brüssel an: Händler sollen Steuern künftig zentral zahlen können statt in allen EU-Ländern einzeln. Das soll zu „mehr freiwilliger Steuerehrlichkeit“ führen. Ein Druckmittel, das die Händler zum Zahlen zwingt, sieht die EU nicht vor.
So ein Druckmittel gibt es bisher nur Großbritannien: Schmeißen Handelsplattformen steuerhinterziehende Händler nach einer Behördenwarnung nicht raus, müssen sie selbst für den Schaden haften. Dem Guardian zufolge sortierte Amazon.uk deshalb Händler aus, die keine Steuernummer hatten.
In Deutschland analysiert eine Bund/Länder-Arbeitsgruppe, wie „die Besteuerung bei solchen Modellen noch wirksamer sichergestellt werden kann“, teilte das Bundesfinanzministerium c’t mit. Erkenntnisse zur Höhe der Steuerausfälle habe man jedoch nicht. Selbst der Bundesrechnungshof, der das Internet als „Steueroase“ bezeichnet, hat dazu keine Zahlen – sein Urteil bezieht sich nur auf den Handel mit digitalen Gütern wie Apps.
Mark Steier, ehemals selbst Online-Händler, heute Blogger und Berater, schätzt, dass dem deutschen Fiskus durch chinesische Händler auf den großen Plattformen jährlich 500 bis 800 Millionen Euro entgehen – „konservativ gerechnet“. Steier hat über die APIs der Marktplätze von eBay und Amazon Händlerdaten ausgelesen. Seine Erkenntnisse passen zu offiziellen Zahlen der Finanzverwaltung: Nur 375 chinesische Firmen sind in Deutschland umsatzsteuerlich registriert.
Till Schadde von tizi führt noch eine andere Ungerechtigkeit an: Die Bundesnetzagentur drohte ihm neulich ein fünfstelliges Bußgeld an, weil Straße und Postleitzahl seines Unternehmens auf einer Verpackung fehlten. Seine Konkurrenten von außerhalb der EU würden solche Vorgaben ständig verletzen – seien für die Bundesnetzagentur aber schlicht nicht erreichbar.
Auch Mark Steier betont, dass es nicht nur um Steuern geht. Er schätzt den Vorteil durch Einsparen der Mehrwertsteuer, Ignorieren von Registrierungspflichten (z. B. für die Entsorgung) und Wegfall von Gewährleistung und Widerrufsrecht auf 40 bis 45 Prozent. (cwo@ct.de)