c't 13/2018
S. 68
Reportage
Kassenloser Supermarkt

Ladendiebstahl lohnt sich nicht

Amazon Go: Supermarkt ohne Kasse

Bei Amazon Go kann man die Waren einfach aus dem Regal nehmen, einpacken und gehen – die Rechnung kommt aufs Smartphone. Damit das funktioniert, erfassen Dutzende Kameras und 3D-Scanner den Raum, die Ware und die Kunden. Mitarbeiter gibt es aber weiterhin.

Das Einkaufen hier fühlt sich wie eine Einladung zum Ladendiebstahl an. Gut überwacht von unzähligen Kameras darf ich die Ware greifen, in die Tasche fallen lassen und jederzeit gehen. Ich stehe in Amazons neuem Vorzeigesupermarkt in Seattle und probiere aus, wie sich der Konzern die Zukunft des Einkaufens vorstellt. In den Laden kommt nur, wer die Amazon-Go-App auf seinem Smartphone installiert hat. Die Einrichtung funktioniert problemlos mit einem deutschen Account und die Schranke am Eingang öffnet sich, nachdem der Scanner den QR-Code auf dem Handy erfasst hat. Ein Familieneinkauf mit den Kindern scheitert also sofort, wenn nicht jeder ein eigenes Telefon besitzt – das gilt auch für potenzielle Kunden im Kinderwagen. Aber Einrichtung und Sortiment sind ohnehin nicht auf Familien ausgelegt.

Bürobedarf

Nach dem Einkauf einfach gehen – Amazon weiß bereits, was im Warenkorb liegt.

So sind es wohl vor allem Touristen und Angestellte aus den umliegenden Büros und natürlich dem benachbarten Amazon-Hauptquartier, die den Weg in den Amazon-Supermarkt im Zentrum von Seattle finden. Es gibt hier gekühlte Getränke, Sandwiches und Salate, die vor Ort in einer gläsernen Küche zubereitet werden, sowie abgepackte Snacks und Süßwaren. Also das Zubehör für einen langen Tag im Büro.

Der etwa 160 Quadratmeter große Laden ist auffällig hell beleuchtet und beim Blick Richtung Decke sehe ich, welcher Aufwand für das kassenlose Einkaufserlebnis nötig ist: Überall im Raum und über jedem Regalmeter hängt mindestens eine schwarze Kamera- oder Sensorbox und auch die Decke in der Mitte des Raumes ist damit überzogen.

Total überwacht

Die technischen Details gibt Amazon nicht bekannt. Man erfährt nur so viel: Beim Betreten des Raumes durch eine der Einlassschranken beginnt das Tracking des Kunden durch 3D-Sensoren. Gesichtserkennung sei nicht nötig, so Amazon, schließlich könne man jeden Kunden als 3D-Objekt lückenlos verfolgen – ich bin also nur eine Punktwolke im großen 3D-Modell, das in Amazons Cloud mit künstlicher Intelligenz ausgewertet wird. Greift die Punktwolke zu, ordnet ihm die Software den Artikel zu. Um die Erkennung zu verbessern, stehen einige Artikel auf Regalböden mit einer Wägezelle. Die vor Ort frisch zubereiteten und in Papier verpackten Lebensmittel sind mit einem Punktmuster auf der Oberseite gekennzeichnet – vermutlich für die Kameras in der Decke. Legt ein Kunde die Ware später wieder zurück ins Regal, erkennt das System auch dieses und nimmt das Produkt wieder aus dem virtuellen Warenkorb. Ich frage eine Mitarbeiterin, was passiert, wenn ich ein Produkt nehme und im Laden an einen anderen Kunden weitergebe. „Dann müssen Sie es bezahlen.“ – da enden also die Möglichkeiten der Totalüberwachung.

Sensoren in der Decke verfolgen jeden Schritt.

Eine Beschriftung über dem Ausgang stellt es noch einmal klar: „Sie können einfach gehen (wirklich)!“ Weder Ware noch QR-Code in der App müssen am Ausgang auf den Scanner. Erst zehn Minuten später kommt die Rechnung per Mail – entweder funktioniert die Berechnung noch nicht in Echtzeit oder das System wartet, bis es ganz sicher ist, dass der Kunde den Laden verlassen hat. Erst jetzt zeigt die App alle gekauften Produkte an. Ich habe mich angestrengt, dem System das Leben schwer zu machen, Aufdrucke abgedeckt, Waren unvermittelt gegriffen und später wieder zurückgestellt und bin 12 Minuten und 37 Sekunden durch den Laden geirrt (zumindest zeigt die App mir diese Information). Aber all das konnte die Erkennung nicht aus dem Konzept bringen.

Überall Menschen

Wer erwartet hätte, einen vollautomatischen und mitarbeiterfreien Laden zu besuchen, dessen Regale autonome Roboter und Förderbänder aus einem Zentrallager befüllen, wundert sich über die vielen Mitarbeiter im Verkaufsbereich. Einer gibt Neulingen Tipps am Eingang, zwei befüllen Regale aus analogen Kisten und ein weiterer bewacht mit einem Ausweisscanner die Ecke mit dem Alkohol – ich habe nur meinen deutschen Personalausweis und keinen Reisepass zur Hand und so darf ich nicht in die Nähe der kleinen Bier- und Weinauswahl. Zwei Kunden nach mir, beide deutlich über 50, lassen ihre US-Ausweise scannen und dürfen passieren.

Während einige Supermärkte in Deutschland schon auf E-Paper-Preisschilder setzen, hängen im Supermarkt der Zukunft noch Papierschilder. Die Preise scheinen sich hier nicht häufig zu ändern. Während ich mir in Ruhe die Details ansehe, zeigt ein routinierter Einkäufer, wofür der kassenlose Supermarkt gut ist: Er stürmt in den Laden, greift sich sechs Fertigsalate, schiebt mit dem Unterarm den Inhalt eines Regalbodens mit Sandwiches in seine große Tasche und eilt davon – nicht einmal 30 Sekunden hat sein Einkauf für ein Großraumbüro gedauert.

Kann man machen

Der Supermarkt ist vor allem eine Machbarkeitsstudie. Wer, wie Amazon, eigene Rechenzentren betreibt und genug Entwickler hat, kann sich die Spielerei leisten. Flächendeckend wird es diese Märkte aber in den nächsten Jahren wohl nicht geben. Es ist unwahrscheinlich, dass Supermarktketten hierzulande das Konzept übernehmen: Europäische Datenschützer dürften berechtigte Kritik an der Überwachung anbringen und die Investitionen in die Technik müssten erstmal wieder eingespielt werden – dafür fehlen aber die klaren Vorteile gegenüber einem konventionellen Markt. Es bleibt ein technisch spannendes Experiment, das seinen Reiz schnell verlieren dürfte, wenn man hier täglich einkauft. (jam@ct.de)