Kommentar | Kommentar | c't

The Times They Are A-Changin’

Die Freude am Überschaubaren wiederentdecken

Von Maik Schmidt

So ziemlich alles, was mit Informationstechnik zu tun hat, erlebte in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung. So weit, so binsenweise. Im Detail ist es dabei streckenweise zu absurden Auswirkungen gekommen. Das illustriert etwa der Speicherbedarf von Programmen sehr anschaulich: Allein das Desktop-Icon eines auch schon wieder veralteten Windows-Spiels wie Skyrim belegt etwa so viel Speicherplatz wie das komplette Rollenspiel „The Legend of Zelda“ auf dem Nintendo Entertainment System (NES) von 1986. Ob der Spaß am Spielen wirklich im selben Maß gewachsen ist?

Heutige Softwareprodukte sind äußerst komplexe Schöpfungen. Sie bestehen aus immer größeren und komplizierteren Bausteinen, die niemand mehr allein durchdringen kann. Dieser Trend erschwert den Zugang zur Technik immens. Programmieren als Selbstverständlichkeit für Anwender? Diese frühere Errungenschaft ist weitgehend verloren gegangen, während die Distanz zwischen Nutzer und Maschine ständig gewachsen ist.

Die Generation der Heimcomputer-Enthusiasten hatte noch eine reelle Chance, einen Rechner vollständig zu verstehen, sozusagen jedes Byte beim Namen zu kennen. Die Geräte der Achtzigerjahre reizten zum Experimentieren und zwangen ihre Nutzer regelrecht zur imperativen Programmierung. Von der Eingabe der Lade- und Startkommandos für einen eingebauten BASIC-Interpreter bis zum regelrechten Programmieren war es nur ein Schritt – damit begann manche IT-Karriere.

Da noch niemand von Online-Plattformen wie Stackoverflow.com auch nur träumen konnte, waren die Standard-Informationsquellen Bücher und gedruckte Magazine. Statt „Cut & Paste“ war „Trial & Error“ angesagt. Heute hat sich das Verhältnis der Anwender zu ihren Schreibtisch- und Taschengehirnen stark abstrahiert. Das lässt so etwas wie die Ahnungslosigkeit des Kühlschrankbesitzers entstehen: Er glaubt, er habe sein Alltagsgerät im Griff, versteht aber nicht die Bohne von dessen Arbeitsweise und diese bereichert ihn auch nicht wirklich im Hinblick auf sein Denken.

Als Zeichen des Fortschritts erscheint oft der Umstand, dass heute jeder Smartphone-Träger mehr Rechenpower spazierenführt, als der NASA für ihre Apollo-Missionen zur Verfügung stand. Gleichzeitig verbreiten aber massenhaft Leute technisch und historisch ignorante Verschwörungstheorien – und nutzen dafür die Leitungen des leistungsfähigsten Datenkommunikationsnetzes, das es je gab.

Die Zivilisation der Techniknutzer erstickt in Komplexität. Fehler und Sicherheitslücken bleiben unbemerkt. Werkzeuge und Methoden konnten mit dem, was sie handhaben sollten, nicht Schritt halten. Viele Menschen haben sich längst damit abgefunden, dass Alltagstechnik nicht sofort einwandfrei arbeitet: Unzählige Neustarts, stundenlange Updates vor der ersten produktiven Nutzung – alles ganz normal? Mittlerweile ist das Komplexitätssyndrom sogar in Bereichen wie der Luftfahrttechnik so durchgeschlagen, dass Software-Bugs Menschenleben kosten, ohne dass Menschen noch eine Chance zum Eingreifen haben.

Es kann manchmal lohnend sein, alte Ideen neu zu entdecken, um neue Konkretheit und Transparenz zu gewinnen. John McCarthy entwarf 1958 die Programmiersprache Lisp und legte damit den Grundstein für die funktionale Programmierung. Sie macht Probleme anschaulich und lässt leicht nachvollziehbaren Code entstehen. Das führt bis zu dem Punkt, an dem sich die Korrektheit von funktionalem Code mathematisch beweisen lässt. Interessanterweise werden die meisten modernen Sprachen gerade schrittweise um funktionale Features ergänzt, die mittlerweile mehr als 60 Jahre alt sind. Mehr Retro geht kaum noch.

Völlig klar: Früher war nicht alles gut, heute ist nicht alles schlecht. Pure Nostalgie kann den Blick verschleiern. Momentan bewegt die Zivilisation sich aber auf dünnem Eis – sie läuft Gefahr, die Kontrolle über ihre Technik zu verlieren. Da kann es durchaus hilfreich sein, mal innezuhalten und sich, wo es geht, auch mal ganz bewusst um einfachere, vergleichsweise leicht beherrschbare Lösungen zu bemühen. (psz@ct.de)

Maik Schmidt entwickelt seit 1993 Software für Industriebetriebe unterschiedlicher Größenordnung. Sein erstes Buch schrieb er 2005 über die Programmiersprache Ruby. Seitdem hat der bekennende Freund der Open-Source-Bewegung noch weitere Bücher mit dem Schwerpunkt auf Programmierung verfasst, vor allem über den Arduino und den Raspberry Pi.