IT & Klimawandel: Genug geschämt
Schämen Sie sich auch schon? Nach Flugscham und SUV-Scham ist zurzeit Digitalscham angesagt. Die Cloud heizt dem Planeten angeblich kräftiger ein als die Fliegerei. Und Serienjunkies sind keinen Deut besser als Cayenne-Fahrer, denn Netflix & Co. pusten mehr CO2 in die Luft als ganz Brasilien. So liest man es zumindest immer wieder.
Ob die Zahlen zumindest einigermaßen hinhauen, hinterfragt kaum jemand. Das Tolle an dem Thema ist schließlich: Endlich wird Greta Thunberg der Heuchelei überführt. Sie redet von Klimaschutz, liest ihre Reden aber vom Smartphone ab. Obendrein rottet ihr Gefolge sich jeden Freitag über WhatsApp zusammen. Und postet dann noch Fotos davon! „Das alles ist nicht emissionsfrei“, missbilligten neulich die „Tagesthemen“. Und schon hat die Generation Golf den schwarzen Peter elegant zurückgeschoben zur Generation Smartphone.
Natürlich muss IT grüner werden. Doch dieses Ziel erreicht man nicht, indem man Nutzern ein schlechtes Gewissen einredet. Trotz Flugscham steigen die Passagierzahlen, trotz SUV-Scham geht der neue X5 weg wie geschnitten Brot. Ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendjemand wegen Digitalscham auf die dritte Staffel von Babylon Berlin oder das nächste iPhone verzichtet.
Im schlimmsten Fall geht das ganze Geschäme nach hinten los. Wenn angeblich jeder Klick das Klima killt, klicken die Leute das Thema Klimaschutz bald nur noch weg.
Man sollte also nicht den Nutzern, sondern den Netzbetreibern und Big Tech auf die Finger klopfen. Google, Apple & Co. bauen zwar Windräder für ihre Rechenzentren, doch das ist nur die grüne Fassade. Die Lieferkette in China arbeitet vor allem mit Kohlestrom, obwohl die Konzerne mehr als genug Kohle haben, das zu ändern.
Auch die Politik hat ihre Hausaufgaben noch nicht erledigt. Es fehlen Vorgaben für langlebige und recycelbare Geräte. Und ja, auch jeder Nutzer kann etwas tun. Unsere Tipps – ohne erhobenen Zeigefinger – lesen Sie ab Seite 62. Außerdem checken wir Digitalscham-Theorien und durchleuchten die Klimabilanzen der Digitalkonzerne.
Christian Wölbert