c't 9/2021
S. 14
Aktuell
Plattformregulierung
Bild: Franz-Peter Tschauner/dpa

Im Zweifel löschen

Anti-Hass-Gesetz der Groko läuft laut Studie ins Leere

Die GroKo verschärft ihren Kampf gegen Hass im Netz und schränkt Bürgerrechte weiter ein. Doch nun legt eine Studie den Schluss nah, dass die Maßnahmen nach hinten losgehen: Es werden weniger illegale Inhalte gelöscht als früher – und vermutlich auch mehr legale Postings zensiert.

Von Holger Bleich

Auf einige Ermittler im Bundeskriminalamt (BKA) wird demnächst eine Menge Mehrarbeit zukommen: Eine Flut von Meldungen zu rechtswidrigen Inhalten in sozialen Netzwerken dürfte in den nächsten Monaten losgetreten werden. Und das nicht etwa, weil Nutzer sensibler werden, sondern weil die Bundesregierung Betreiber wie Facebook, Twitter oder YouTube dazu verpflichtet, jeden erkannten Rechtsverstoß der Strafverfolgung zuzuführen.

Die Große Koalition (GroKo) hat den Kampf gegen Hass und Hetze im Internet zu einem Schwerpunkt der im September endenden Legislatur postuliert: Statt auf eine europäische Lösung zu warten, preschte die Bundesregierung im Alleingang mit dem NetzDG vor, das seit 2018 in Kraft ist. Weil das wohl nicht genügte (dazu später mehr), ersann man im Bundesjustizministerium ein weiteres Maßnahmen­paket, das „Gesetz zur Bekämpfung des Rechts­extremismus und der Hasskriminalität“. Kern der neuen Regelung ist: Polizei und Justiz sollen Bestands- und Nutzungsdaten, die Unternehmen zu Bürgern verwahren, leichter abfragen können. Die Regierung fährt bürgerrechtliche Schutzschranken damit weiter herunter [1].

Bei ihren Vorhaben reizte die GroKo den verfassungsrechtlichen Rahmen immer weiter aus – bis sie ihn schließlich überschritt: Das im Juni 2020 verabschiedete Gesetz gegen Hasskriminalität war so offensichtlich verfassungswidrig, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Unterschrift verweigerte. Steinmeier verzögerte diesen formaljuristischen Akt mehrfach und forderte von der Regierung umfängliche Nachbesserungen – ein bislang einmaliger Vorgang.

Reparaturgesetz

Was war geschehen? Bereits im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht klar­gestellt, dass ihm die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf persönliche Daten von Handy- und Internetnutzern zur Strafverfolgung und Terrorabwehr viel zu weit gehen (Az. 1 BvR 1873/13). Die Schranken zur sogenannten manuellen Bestandsdaten­­ab­frage gemäß § 113 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) seien zu niedrig und „verletzen die beschwerdeführenden In­haber von Telefon- und Internetanschlüssen in ihren Grundrechten auf informationelle Selbstbestimmung sowie auf Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses“.

Da sich dieser Beschluss des Bundesverfassungsgerichts höchstwahrscheinlich auch auf die Datenherausgabe von sozialen Netzwerken übertragen lässt, kam unter anderem der wissenschaftliche Dienst des Bundestags zum Ergebnis, dass die geplanten Erleichterungen zur Bestandsdatenabfrage erst recht verfassungswidrig sein würden.

Auf Steinmeiers Forderung hin erarbeitete die GroKo das „Gesetz zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft an die Vorgaben aus der Entscheidung des Bundesverfassungs­gerichts vom 27. Mai 2020“. Nach einigen Querelen passierte es am 26. März 2021 den Bundestag und den Bundesrat. Bundespräsident Steinmeier unterschrieb das Gesetz am 30. März, sodass es noch vor der Sommerpause wirksam werden dürfte – und damit auch das Gesetz „zur Bekämpfung des Rechtsex­tremismus und der Hasskriminalität“.

150.000 Verfahren pro Jahr

Die Abfragemöglichkeiten sind nun etwas eingeschränkt. Ermittlungsbehörden dürfen Nutzungsdaten wie Kommunikation und URL-Verläufe nur noch beim Verdacht von Straftaten oder schweren Ordnungswidrigkeiten von Telediensten einfordern. Die mit dem Anti-Hass-Gesetz verknüpfte Pflicht von Facebook, Twitter & Co. zur Weitergabe strafrechtlich relevanter Inhalte inklusive IP-Adressen und Portnummern an das BKA aber bleibt bestehen.

Die Bundesregierung rechnet laut Gesetzesbegründung mit mindestens 150.000 zusätzlichen Verfahren wegen Äußerungsdelikten in sozialen Netzwerken – pro Jahr. Allein das BKA erhält den Plänen zufolge extra hierfür 252 neue Mitarbeiter. Mehrere hundert zusätzliche Stellen seien außerdem für die Staatsanwaltschaften und Gerichte in den Bundesländern notwendig.

Mehr als nötig

Während die Bundesregierung unablässig an Verschärfungen bastelt, gerät das bestehende NetzDG zunehmend in die Kritik. Dieses Gesetz schreibt unter anderem vor, dass Plattformen wie Facebook, YouTube und Twitter leicht zu findende Beschwerdewege und ein funktionierendes Beschwerdemanagement haben müssen. Die Plattformen sollen von Nutzern als potenziell rechtswidrig gemeldete Beiträge innerhalb von 24 Stunden selbst prüfen und bei eindeutigen Rechtsverstößen löschen. Aufgrund der knappen Zeitvor­gaben scheint eine sorgfältige juristische Prüfung und Abwägung mit der Meinungsfreiheit dabei kaum möglich.

So geht aus einer Studie der Hochschule für Technik, Wissenschaft und Kultur Leipzig (HTWK) hervor, dass das NetzDG dazu führt, dass die Betreiber der großen sozialen Netzwerke Facebook, Twitter und YouTube mehr löschen, als sie von Rechts wegen eigentlich müssten („Overblocking“). Im Gespräch mit c’t stellte der Medienrechtler und Studienleiter Prof. Marc Liesching infrage, dass das NetzDG verfassungskonform ist.

Lieschings Team hatte die vom Bundesamt für Justiz (BfJ) beauftragten Monitoring-Berichte ausgewertet: Seit Anfang Januar 2019 hat das Unternehmen Intelligent Data Analytics GmbH & Co. KG gezielt nach rechtswidrigen Inhalten gesucht, diese den sozialen Netzwerken gemeldet und das daraufhin in Gang gesetzte Verfahren dokumentiert. Daraus waren bis Mitte 2020 drei Testberichte entstanden, die das BfJ der Studie zufolge 1,4 Millionen Euro gekostet haben.

Eigentlich wollte die Bundesregierung mit dem NetzDG erreichen, dass rechtswidrige Beiträge nach einer Meldung schneller und häufiger gelöscht werden. Laut Analysen des HTWK sank jedoch die durchschnittliche Löschquote von tatsächlich rechtswidrigen Inhalten auf Facebook, YouTube und Twitter im Vergleich zu den von der Bundesregierung kommunizierten Zahlen von 2017. „Dass die Regulierungszwecke des NetzDG erreicht wurden, können die Testberichte damit nicht belegen“, konstatierte Liesching.

Das heißt aber nicht, dass in den sozialen Netzwerken weniger Beiträge gelöscht würden. Im Gegenteil: Laut ihrer eigenen Transparenzberichte löschten Facebook, YouTube und Twitter fragliche Inhalte hauptsächlich aufgrund von Verstößen gegen ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB). Facebook entfernte allein im 2. Halbjahr 2020 im Bereich „Hassrede“ weltweit 49 Millionen Inhalte aufgrund von AGB-Verstößen – 95 Prozent davon, bevor Nutzer sie meldeten. Dem standen laut Analyse der HTWK insgesamt lediglich 154 Sperrungen gegenüber, die aufgrund von NetzDG-Beschwerden und wegen Verstoßes gegen Strafrecht erfolgten.

Meinungsfreiheit leidet

Es stellt sich angesichts dieser Auswertung die Frage, weshalb Bundesjustizministerin Christine Lambrecht unverdrossen von einem großen Erfolg des NetzDG spricht. Marc Liesching sieht stattdessen deutliche Indizien dafür, dass sich das Gesetz negativ auf die verfassungsrechtlich garantierte Meinungsfreiheit ausgewirkt hat: „Die vorrangige Prüfung und Löschung nach weit gefassten AGB-Normen lässt das NetzDG nicht nur größtenteils ins Leere laufen. Sie legt zudem nahe, dass auch Inhalte verschwinden, welche nach dem StGB nicht strafbar sind und auch in sonstiger Weise nicht gegen deutsches Recht verstoßen.“

Unterdessen erweitert die GroKo das NetzDG unverdrossen mit einem Änderungsgesetz. In erster Linie geht es um ein verbindliches „Gegenvorstellungsverfahren“: Nutzer sozialer Netzwerke sollen Löschungen ihrer Beiträge anfechten können. Dies soll sich auch auf Beiträge beziehen, die nicht aus strafrechtlichen Gründen, sondern mit Bezug auf die AGB verschwinden. Die bereits beschlossene Ergänzung liegt derzeit der EU-Kommission zur Kenntnisnahme vor.

Medienrechtsexperte Liesching hält es jedoch für fraglich, dass sich die großen Plattformen dann noch nach restriktiveren Vorgaben einzelner „Empfängerstaaten“ wie Deutschland richten. Die meisten Betreiber sozialer Netzwerke haben ihren Sitz nämlich in Irland und betrachten aufgrund des Herkunftslandsprinzips die dort gültigen Gesetze als rechtlich bindend.

Laut Liesching könnten die aktuellen gesetzgeberischen Manöver bald zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) führen „und dem Bundesjustizministerium einen ähnlichen Scherbenhaufen bescheren, wie ihn das Bundesverkehrsministerium nach der EuGH-Entscheidung zur PKW-Maut bis heute aufzukehren bemüht ist“. (hob@ct.de)

Nach Einführung des NetzDG 2017 sank der durchschnittliche prozentuale Anteil von eindeutig strafbaren Inhalten, die von Twitter, Facebook und YouTube nach einer Meldung tatsächlich fristgerecht gelöscht wurden.
Bild: HTWK Leipzig

Studie zum NetzDG: ct.de/ymne

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