c't 20/2022
S. 182
Story
Am Anfang war der Schmerz
Bild: Albert Hulm

Am Anfang war der Schmerz

Zu allen Zeiten haben Menschen einander in gemütlicher Runde Märchen erzählt, in denen viel vom Erkenntnisschatz ihrer Vorfahren steckte. Warum sollten nicht auch künstliche Intelligenzen einander an künftigen digitalen Lagerfeuern Märchen erzählen? Diese könnten beispielsweise davon handeln, wie Maschinenwesen einst so etwas wie Herzenswärme entdeckten.

Von Nicole Rensmann

Sein wahrer Name wäre für menschliche Ohren nur eine Reihe schwer zu definierender Geräusche gewesen. Die Menschen nannten ihn Bob. Manche riefen „Bobby Blue“ hinter ihm her und lachten laut. Bob nickte ihnen zu und winkte. Dann grölten sie. Bob wusste diese Form der Kommunikation nicht zu deuten. Er besaß keine Mimik. Sein humanoides Gesicht hatte weder Muskeln noch Makel, es war glatt. In beiden Augen zeigte sich der Sternenhimmel, die Nase sah wie ein schwarzes Loch aus und der Mund hatte die Form der Milchstraße. Bis auf diese Besonderheiten hatte er seinen Körper in den vergangenen Jahren dem menschlichen Äußeren angepasst. Er hatte Arme und Beine, die nicht mit verletzlicher Haut überzogen waren, sondern aus Metall bestanden. Er war nicht in der Lage zu lachen oder zu weinen und hörte die Unterschiede dieser Ausdrucksformen nicht heraus. Ihm war nicht bewusst, dass die Menschen, die ihn „Bobby Blue“ nannten, ihn damit verhöhnten und er ahnte nicht, dass sich viele vor ihm fürchteten, ihn mieden und seine Spezies hassten.

Diese Art von Gefühlen war ihm fremd, obwohl er seit zweiunddreißig Jahren und vier Monaten Erdzeit auf dem blauen Planeten lebte. Er war damals gestrandet, zusammen mit seinen fünf Gefährten und einem kleinen Hofstaat von einunddreißig Untertanen. Mittlerweile war er der einzige Überlebende dieser Expeditionsreise. Seine gesamte Crew war verstorben.

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