c't 22/2022
S. 12
Aktuell
Vorratsdatenspeicherung

Der Überwachungszombie

EuGH-Urteil öffnet Hintertüren zur Vorratsdatenspeicherung

Die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland widerspricht zwar europäischem Recht, das höchste EU-Gericht lässt aber einige Ausnahmen zu. Damit erlaubt es der Bundesregierung, Provider zur Speicherung von IP-Adressen zu verpflichten.

Von Holger Bleich

Der Jubel von Bürgerrechtlern kam zu früh, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 20. September sein Urteil zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland verkündet hatte. Grundsätzlich stehe „das Unionsrecht einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten entgegen“, hieß es in der Überschrift einer ersten Mitteilung des Gerichts – weshalb das deutsche Gesetz europarechtswidrig sei. Doch der EuGH formulierte – wie auch in vorangegangenen Urteilen zum Thema – einige Ausnahmen, die einen weiten Spielraum für neue Anläufe eröffnen.

Das Urteil geht auf eine Änderung am deutschen Telekommunikationsgesetz (TKG) aus dem Jahr 2015 zurück. Damals hatte die Koalition aus CDU/CSU und SPD durchgesetzt, dass Provider Verkehrsdaten zehn Wochen auf Vorrat speichern und gegebenenfalls an Strafverfolgungsbehörden herausgeben müssen. Diese können dann nachvollziehen, wer wann mit wem telefoniert hat und IP-Adressen ihren Anschlussinhabern zuordnen. Von Funkzellen erfasste Standorte von Mobiltelefonen sollten der TKG-Änderung zufolge vier Wochen gespeichert werden.

Nach einer erfolgreichen Klage der Provider SpaceNet und Telekom beim Verwaltungsgericht Köln setzte 2017 die Bundesnetzagentur diese Pflichten bis zur endgültigen rechtlichen Klärung aus. 2019 befasste sich das Bundesverwaltungsgericht als höchste deutsche Instanz mit der Sache und befragte schließlich den EuGH dazu, ob die TKG-Änderung mit dem EU-Recht vereinbar sei.

Der EuGH verneinte und stellte unter anderem Verstöße gegen die EU-Grundrechtecharta fest: Aus den auf Vorrat gespeicherten Daten könne man „sehr genaue Schlüsse“ etwa auf das Privatleben von Personen, auf Gewohnheiten des täglichen Lebens oder „tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen“ schließen. Auch strenge Zugriffsschranken auf die anlasslos gespeicherten Daten könnten „den schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Betroffenen weder beschränken noch beseitigen“.

Nein, aber ...

Zwar sagte der EuGH grundsätzlich „nein“ zur Vorratsdatenspeicherung, öffnete dem deutschen Gesetzgeber aber gleichzeitig einige Hintertüren. So dürfe der Staat Provider zur Vorratsdatenspeicherung verpflichten, falls er sich „einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht“. Die Maßnahme sei auf einen „absolut notwendigen“ Zeitraum zu begrenzen, aber verlängerbar.

Nach dem Urteil forderten die Justiz- und Innenminister der Länder einen schnellen Gesetzentwurf von der Bundesregierung, der die Vorgaben des EuGH umsetzt., Bild: Sven Hoppe/dpa
Nach dem Urteil forderten die Justiz- und Innenminister der Länder einen schnellen Gesetzentwurf von der Bundesregierung, der die Vorgaben des EuGH umsetzt.
Bild: Sven Hoppe/dpa

Außerdem gestattet der EuGH „zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ eine Vorratsdatenspeicherung auf geografisch begrenzten Gebieten. Das Problem dabei: Niemand weiß exakt, was unter „schwerer Kriminalität“ zu verstehen ist. Beziehungsweise versteht jeder darunter, was ihm politisch in den Kram passt. Möglich wäre es wohl, ein Gesetz zu zimmern, das die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten etwa an Bahnhöfen, Flughäfen, oder von der Polizei definierten Kriminalitäts-Hotspots erlaubt.

Ganz sicher unter „schwere Kriminalität“ fällt dem EuGH zufolge „der Erwerb, die Verbreitung, die Weitergabe oder die Bereitstellung im Internet von Kinderpornografie“, wie man dem Volltext des Urteils entnehmen kann. Und genau für diese Tatbestände setzt der EuGH sein Verbot aus: Versteckt in Unterpunkt 101 des Urteils definiert er, dass bei der „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie“ das Strafverfolgungsinteresse gegenüber dem Datenschutz überwiegt und für diesen Deliktbereich eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen generell erlaubt ist. Doch wie können Provider erkennen, zu welchem Strafverfolgungszweck sie Daten auf Vorrat speichern? Diese Frage lässt der EuGH offen.

Das oberste EU-Gericht kickte den Ball mit Verve zurück in den politischen Raum. Bereits am Tag der Urteilsverkündung brachen innerhalb der Bundesregierung die alten bürgerrechtlichen Konfliktlinien zwischen SPD auf der einen Seite und FDP sowie Grünen auf der anderen Seite auf. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte, den Spielraum zur Speicherung auszureizen, den der EuGH eröffnet hat. Um Ermittlungen zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder effektiver zu machen, sei die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen nötig – einen Beweis für diese These blieb sie bislang allerdings schuldig. Unterstützung erhielt Faeser eine Woche später von der Mehrheit der Landes-Justiz- und Innenminister, die in München zum Thema tagten.

Dem gegenüber steht ein Versprechen, das die Ampelregierung im Koalitionsvertrag gegeben hat. Wörtlich heißt es in dem Papier: „Wir werden die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können.“ Genau auf diese Abmachung berufen sich nun die FDP und die Grünen. Es dürfte auf einen Showdown zwischen Nancy Faeser und ihrem Kabinettskollegen Marko Buschmann (FDP), dem Bundesjustizminister hinauslaufen.

Nahender Showdown

Buschmann kündigte zunächst Gespräche mit Faeser und kurze Zeit später bereits einen Gesetzentwurf an, der lediglich eine anlassbezogene Verkehrsdatenspeicherung – das sogenannte „Quick Freeze“ – vorsehen soll: Bei diesem Verfahren speichern Provider auf Anordnung einer Strafverfolgungsbehörde sämtliche zu einer Person anfallenden Daten, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gerichtet. Erhärtet sich der Tatverdacht, kann die Behörde diese Daten auf richterlichen Beschluss hin anfordern.

Befürwortern der Vorratsdatenspeicherung wie Faeser genügt das nicht, weil angeblich Provider wegen der Flatrate-Tarife keine Daten mehr zu Abrechnungszwecken vorhalten. Kritikern von „Quick Freeze“ geht auch diese anlassbezogene Speicherung bereits zu weit (siehe Kommentar). So bleibt bis zum Showdown offen, ob Buschmanns erster Kommentar zum EuGH-Urteil Bestand haben kann: „Heute ist ein guter Tag für die Bürgerrechte!“ (hob@ct.de)

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