Stalking aus der Cloud
Wie viele E-Mails haben Sie heute geschrieben? Wie viele Personen haben Sie dabei ins CC gesetzt? Wie viel Zeit haben Sie in Besprechungen verbracht, und wie umfangreich ist Ihr digitales Adressbuch?
Wer auf diese Fragen nichts zu erwidern weiß, muss sich womöglich bald umstellen: Seine Arbeitsleistung könnte künftig an den Antworten gemessen werden, jedenfalls wenn es nach Microsoft geht. Für sein Cloud-Produkt Office 365 bietet der US-Konzern neuerdings die Komponente „Workplace Analytics“ an, die den Mitarbeitern eines Unternehmens – ungefragt und unbemerkt, weil auf Microsoft-Servern stattfindend – auf die Finger schaut: Leistungsbewertung nach Zahl der E-Mails, Zahl der Kontakte und der in Meetings verbrachten Zeit, und selbstverständlich anonymisiert.
Wer viel fragt, bekommt viele Antworten, könnten sich die Produktdesigner bei Microsoft gedacht haben, als sie diese Office-Erweiterung ersannen und sie später unter dem Schlagwort „datengetriebene Entscheidungen“ vermarkteten. Wer etwa die Metadaten seines E-Mail-Clients auswertet oder die Belegung seines Terminplans, erfährt so manches – unter anderem eben, wie lange er in Besprechungen sitzt oder wie häufig er sich mit Kunden und Kollegen austauscht. Nur käme hierzulande vermutlich kein Büroangestellter auf die Idee, diese Werte als Maß seiner individuellen Produktivität zu begreifen.
Solche abstrakten Kennzahlen haben jedoch in der US-amerikanischen Arbeitskultur einen anderen Stellenwert. Unter der harmlos klingenden Bezeichnung „People Analytics“ ist die Leistungsbewertung (Scoring) ein durchgesetztes Mittel, die Konkurrenz unter den Mitarbeitern anzustacheln. Microsoft bewirbt sein Produkt unter anderem mit dem Beispiel eines erfolgreichen Vertrieblers, dessen Adressbuchumfang, Termindichte und Habitus beim E-Mail-Versand als „Erfolgsrezept“ vorbildlich für alle Kollegen sein sollen.
Man kann das Analyseangebot von Microsoft als befremdliche Eigenheit der Amis und ihrer Work Culture belächeln. Zudem lässt es sich mit dem Argument kontern, Mitarbeiterüberwachung (und die auch nur punktuell und nicht permanent) sei in Deutschland mitbestimmungspflichtig und der Betriebsrat daher die geeignete Waffe im Kampf gegen Unternehmerwillkür. Wer so argumentiert, wiegt sich jedoch voreilig in Sicherheit. Denn zum einen sind Cloud-Angebote wie Office 365 gerade für kleine Firmen attraktiv, in denen es oft keinen Betriebsrat gibt. Zum anderen richtet sich Workplace Analytics an Führungskräfte, die ihre Untergebenen auf Trab bringen sollen und wollen. Ihnen präsentiert die Software einen allgemeinen Bewertungsmaßstab für die Produktivität am Arbeitsplatz – das Anonymisieren der Daten wird kaum verhindern, dass „Minderleister“ zu identifizieren sind. Und dieses Bestreben ist nicht auf die USA beschränkt, sondern entfaltet global seine Wucht.
Das Unternehmensinteresse an einem solchen Stalking-Werkzeug aus der Cloud wird sich deshalb vom deutschen Arbeitsrecht kaum beeindrucken lassen, zumal Letzteres ohnehin als „Wachstumshindernis“ in der Kritik steht. Das Cloud-Modell selbst ist zudem eine große Verlockung zur bedenkenlosen Verwendung gesammelter Informationen: Sind die Unternehmensdaten erst mal außer Haus, sind sie außer Kontrolle – sie liegen nicht nur in den Händen eines fremden Unternehmens, sondern auch außer Reichweite jeder Prüfinstanz.
Man kann Microsofts Angebot als fragwürdiges Nebenprodukt eines ansonsten nützlichen Cloud-Dienstes begreifen (der Hersteller spricht beiläufig vom Digital Exhaust, der „digitalen Abluft“, die beim Benutzen von Office 365 entsteht). Damit unterschätzt man jedoch das Zerstörungspotenzial, das ein solches Instrument zur Mitarbeiterüberwachung auf etablierte und vertrauensvolle Arbeitsabläufe hat – man täuscht dann eben viele Kontakte vor, befüllt sinnlos die CC-Zeile und erhebt jedes Flurgespräch zum Meeting. Außerdem überschätzt man das deutsche Recht auf betriebliche Mitbestimmung, das nichts verhindern kann, wenn eine Überwachungssoftware nicht mehr installiert und per Betriebsvereinbarung in Kraft gesetzt wird, sondern unbemerkt auf fremden Servern läuft. Und – last, but not least – man gibt sich der Illusion hin, dass man eine Cloud nutzen und zugleich die Kontrolle über seine Daten behalten könne.