iX 11/2019
S. 50
Titel
Industrial IoT

Industrielles Edge-Computing als neues Paradigma

Weit verteilt

Alexander Willner

Cloud-Computing kann nicht alles leisten. Richten soll es nun das verteilte Edge-Computing, das eine Vielzahl aktueller IT-Konzepte vereint.

Als das Wall Street Journal im Dezember 2018 technische Entwicklungen auflistete, die 2019 Einfluss auf die menschliche Lebensweise haben werden, befand sich darunter auch das Edge­-Computing. Dabei ist Edge-Com­puting vor allem ein verteiltes Cloud-Computing-Paradigma, das allerdings einige technische und organisatorische Konsequenzen nach sich zieht.

Solche Paradigmenwechsel finden regel­mäßig statt. Beherrschten zentrale Mainframes die 60er- und 70er-Jahre, ver­breiteten sich bereits in den 80ern die verteilten Anwendungen, die dem Client-Server-­Prinzip folgten. Dieser Trend kehrt sich seit der Jahrtausendwende wieder um, die Ausführungslogik wanderte zurück in die – weitestgehend – zentralisierte Cloud.

Es gibt jedoch zunehmend Anwendungsfälle, die wieder eine verteilte Architektur erfordern, in denen man aber nicht auf die Vorteile der Cloud verzichten will. Deshalb gilt es, beide Ansätze zu kombinieren und die Anforderungen bezüglich Datenschutz, Latenzen, Autonomie und Energiebedarf zu berücksichtigen. In der Web- und App-Entwicklung entspräche das etwa dem Trend, wieder mehr Code client- statt serverseitig aus­zuführen, um Daten lokal vorzuhalten, Reaktionszeiten zu reduzieren und Services auch offline anbieten zu können.

Edge-Computing geht jedoch noch weiter und schließt eine Vielzahl von Standards und Frameworks ein. Das „Open Glossary of Edge Computing“ der Linux Foundation definiert Edge-Computing konkreter als „the delivery of computing capabilities to the logical extremes of a network in order to improve the performance, operating cost and reliability of applications and services“. In der Praxis bedeutet das, so die weiteren Ausführungen des Glossars, neue Ressourcen und Softwarestacks zwischen den heutigen zentralisierten Rechenzentren und der stetig wachsenden Zahl der Geräte im Feld zu verteilen. Die Analysten von WiseGuyReports schätzen, dass der globale Markt für Edge-Computing bis 2023 auf 19 Milliarden Euro wachsen wird. Dadurch mag Edge-Computing auch in der Ausbildung zukünftiger Fach- und Führungskräfte eine große Rolle spielen.

Datenverarbeitung am Rand

Grundsätzlich kann Edge-Computing überall dort zum Einsatz kommen, wo eine vernetzte Kommunikation und Datenverarbeitung stattfindet, also vor allem im Kontext des Internet of Things, das sich grob in die Felder Consumer IoT und Industrial IoT (IIoT) untergliedern lässt. Letzteres bildet den vielleicht wichtigsten Anwendungsbereich.

Der Begriff Industrial umfasst in diesem Zusammenhang alle industriellen Domänen, in denen das IoT Wertschöpfungsketten anwendungsübergreifend ­digital vernetzt. Dazu gehören Transport, kommunale Infrastruktur, Gebäude, Landwirtschaft, Energie, Medizin und die Produktion. Auf Letztere beschränkt sich häufig der Begriff Industrie 4.0. Hierbei vernetzt man die etablierte Betriebstechnik, genannt OT (Operational Technology), global unter Zuhilfenahme der IT, sofern sich daraus wirtschaftliche oder gesellschaftliche Vorteile ergeben. Diese Entwicklung bezeichnet man auch als IT/OT-­Konvergenz. Genau in diesen IIoT-­Domänen haben Anforderungen an Sicherheit, deterministische Kommunikation und Zuverlässigkeit zur Entwicklung spezieller operativer Techniken geführt und ­motivieren gleichzeitig den Einsatz von Edge-­Computing.

In Europa, gerade in Deutschland und insbesondere in der Industrie, vermehren sich die Bestrebungen, schutzbedürftige Daten möglichst lokal zu speichern und zu verarbeiten, statt sie in die Cloud zu schieben. Auch die kurze und definierte Reaktionszeit von Systemen, etwa in der diskreten Fertigung, im Transportwesen oder zum Schutz von Maschinen oder Menschenleben, schließt die Verwendung des Internets aus. Die Anforderung einer ständigen Internetanbindung rückt wieder in den Hintergrund; Systeme müssen autonom und deterministisch agieren können.

Zusätzlich produzierten stärker vernetzte Systeme sowie die wachsende Zahl an Sensoren und Digital Twins (DT) immer mehr Daten, die sich schon aufgrund ihrer Masse nicht mehr sinnvoll an eine zentralisierte Infrastruktur übertragen lassen.

Gleichzeitig steigt der Bedarf an vor Ort verfügbaren Daten, beispielsweise zur Analyse oder in Trainingsphasen des maschinellen Lernens. Aus diesen Gründen beschäftigen sich Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Konsortien wie dem IIC (Industrial Internet Consortium), der Plattform Industrie 4.0 oder dem sich in Gründung befindenden ECCE (Edge Com­puting Consortium Europe) mit Frage­­stellungen der Umsetzung und der Standardisierung.

Vernetzung und Automatisierung

Ein Anwendungsfeld für Edge-Computing ist die Transformation in der Fertigung. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten ein komplexes Vernetzungssystem gebildet, die sogenannte Automatisierungs­pyramide in der Produktion (siehe Abbildung 1). Diese erstreckt sich von der Eingabe-Ausgabe (E/A), der speicher­programmierbaren Steuerung (SPS), über Systeme zur Supervisory Control and Data Acquisition (SCADA) und das Manu­facturing Execution System (MES) bis hin zum ERP-System (Enterprise Resource Planning). Das Konzept der SPS, das Richard Morley 1968 erfand, bildet den Kern des Modells. Dadurch lassen sich lokale Kontrollschleifen vergleichsweise dynamisch konfigurieren und über ein Netz miteinander verbinden.

Die Automatisierungspyramide bildet die komplexe Vernetzung ab, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Produktion entwickelt hat (Abb. 1).

Der Industrie-4.0-Vision folgend sollen cyber-physische Systeme (CPS) diese Pyramide langfristig ablösen. Intelligente, autonome Einheiten agieren dann direkt miteinander in einer möglichst flexiblen Produktion. In diesem Zusammenhang fällt häufig der Begriff der Verwaltungsschale oder Asset Adminis­tration Shell (AAS), die in Kombination mit einem Asset eine „intelligente“ Industrie-­4.0-Komponente darstellt.

Durch den Einsatz Edge-basierter, virtualisierter SPS könnten die Grenzen zwischen physischen SPS und dem klassischen IPC (Industrial PC) weiter verschwimmen. Edge-Knoten könnten beispielsweise Anwendungen dynamisch an der Datenquelle installieren und ausführen. Insbesondere KI-Ansätze können hier Anwendung finden. Ein griffiges Beispiel wäre eine AR-basierte Mensch-Maschine-­Schnittstelle, die sehr geringe Latenzen in der Kommunikation benötigt und hohe Anforderungen im Bereich der Objekt­erkennung stellt.

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